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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Christophe Rousset und Les Talens Lyriques (c) Eric Larrayadieu

Christophe Rousset

Anwalt für schwierige Fälle

Vor 30 Jahren gründete der Cembalist sein Orchester Les Talens Lyriques. Drei neue Alben zeigen das breite Spektrum des Ensembles.

RONDO: Zwei Seelen wohnen in Ihrer Brust: Seit Ihren Zwanzigern gehören Sie zu den führenden Cembalisten der Welt, doch seit 30 Jahren leiten Sie mit Les Talens Lyriques auch ein erfolgreiches Alte-Musik-Ensemble. Wie kam es eigentlich dazu?

Christophe Rousset: Ich habe damals als Continuo-Spieler im Ensemble von William Christie angefangen, und er hat mich ermutigt, es einmal selbst mit dem Dirigieren zu versuchen. Eigentlich hatte ich dazu keinerlei Ambition. Doch in dem Moment, in dem ich es ausprobierte, liebte ich es! Also dachte ich mir, gründe dein eigenes Ensemble. Wir fingen ganz klein an mit Les Talens Lyriques, doch schon nach kurzer Zeit kamen die ersten großen Angebote: eine Produktion von Monteverdis „L’incoronazione di Poppea“ in Amsterdam und natürlich der Soundtrack zum Film „Farinelli“. Das hat uns am Anfang sehr gepusht. Ich glaube, wir haben davon etwa 2 Millionen CDs verkauft.

Wie erklären Sie sich diesen Quasi-Über-Nacht-Erfolg?

Das kann ich nicht sagen, es ist einfach passiert. Karrieren sind oft nur eine Frage der Gelegenheit. Wenn man die ergreift und dann seine Sache so gut wie möglich macht, kann es einem so gehen wie uns. Bald kamen die Opernhäuser auf uns zu, und irgendwann waren wir weltweit bekannt. Das über die Jahre zu halten, war die eigentliche Herausforderung. Inzwischen gibt es ja wahnsinnig viele Ensembles wie uns, und gerade in Frankreich ändert sich die Mode nicht nur bei der Kleidung sehr schnell. Die Leute wollen immer das Neueste haben. „Das Neueste ist immer das Beste“ – auch wenn das nicht immer stimmt. Das Gute ist, dass wir nicht nur in Frankreich unterwegs sind, sondern viel auch in Deutschland und anderen Ländern.

Welche Rolle hat Ihr Repertoire für den Erfolg gespielt?

Ich glaube, mein Repertoire ist etwas für Entdecker, und in den 90er-Jahren waren die Leute, glaube ich, entdeckungsfreudiger als heute. Ich war zunächst auf die neapolitanische Oper spezialisiert, auf Komponisten wie Niccolò Jommelli, Tommaso Traetta oder Leonardo Leo. Ich habe ganze Bibliotheken durchforstet, um herauszufinden, wie die musikalische Landschaft um Händel, aber auch später um Mozart herum ausgesehen hat. Selbst er war kein einzelnstehender Musiker, sondern umgeben von der Musik seiner Zeit. Darum war ich auch so fasziniert von Komponisten wie Cimarosa oder Martín y Soler. Die großen Meisterwerke der „berühmten“ Komponisten haben wir darüber nicht vernachlässigt. Doch die weniger bekannten Werke und ihre Schöpfer wollte ich immer als gleichrangig daneben gestellt sehen. So kam ich zu meinem Ruf als Anwalt für „schwierige Fälle“.

Woran erkennen Sie ein verborgenes Meisterwerk?

Ich denke, dass ich einen Blick dafür habe, ob es sich um eine wirklich überragende Partitur handelt oder um eine eher weniger interessante. Ich weiß noch, wie ich eines Tages aus Recherchezwecken in die Partitur einer „Matrimonio di Figaro“ des portugiesischen Komponisten Marcos António Portugal geschaut habe. Ich dachte mir: Der Titel ist berühmt, eine Alternative zu Mozarts Oper könnte wirklich interessant sein. Doch ich war ziemlich enttäuscht, denn das war nicht der Fall. Als ich aber „Les Danaïdes“ von Salieri machen durfte für die Stiftung Palazzetto Bru Zane, hatte ich es mit einem echten Meisterwerk zu tun. Für mich sind solche Wiederentdeckungen schon deshalb interessant, weil es hier keine Aufführungstradition gibt. Demnächst werde ich auch wieder eine Oper von Salieri in Wien dirigieren, und das Schöne ist: Ohne 100 Vergleichsinterpretationen im Nacken kann ich es angehen, was ich will.

Wie setzen sich die Talens Lyriques eigentlich zusammen?

Alle Mitglieder sind Freiberufler und ich suche mir das Ensemble immer so aus, wie ich es brauche. Ich habe einen Pool von regelmäßigen Mitarbeitern, eine Art Ensemblekern. Das sind Leute, die mich kennen und die wissen, wie es ist, mit mir zu musizieren. Durch die grundsätzliche Durchlässigkeit der Besetzung kann ich immer auf die beste Qualität zurückgreifen. Das ist ein großer Vorteil. Auch für die Spieler, denn sie sind ebenso frei in der Wahl ihrer Projekte. In den letzten 30 Jahren hat sich das Team sehr verändert. Ich halte dennoch meinen Musikern die Treue, mit Leuten wie Sandrine Piau zum Beispiel, die schon bei meiner ersten Händel-Produktion dabei war und letzte Woche erst zwei Konzerte mit uns zusammen gemacht hat. Veronique Gens gehört auch dazu, mit ihr steht demnächst Glucks „Armide“ auf dem Programm.

Und was unterscheidet Les Talens Lyriques von anderen Ensembles für Alte Musik?

Das Unterscheidungsmerkmal eines Ensembles für historische Aufführungspraxis ist der Dirigent. Ich kenne das Orchester ja, und wenn ich die Mitglieder mit anderen Dirigenten zusammen erlebe, erkenne ich sie kaum wieder. Bei jungen Dirigenten habe ich oft das Gefühl, sie möchten etwas anders machen um des Andersmachens willen. Und das war nie etwas, was mich angetrieben hat. Ich interessiere mich für die Partitur, und die wird mir schon sagen, wie ich die Musik zu spielen habe. Ich möchte der Musik keine Gewalt antun, nur um mein Ego zu füttern. Zu dieser Überzeugung war ich schon als Cembalospieler im Teenager-Alter gekommen. Für Musiker der historischen Aufführungspraxis gibt es Regeln. Und wenn wir diese Regeln beachten, dann klingt die Musik „richtig“. Deshalb spielen meine Musiker auch gern mit mir, weil sie es genauso sehen. Ich bin ja nebenbei auch Hochschullehrer und musiziere regelmäßig mit ehemaligen Schülern zusammen.

Drei Neuveröffentlichungen stehen in der nächsten Zeit an: neben einer Gesamtaufnahme von Lullys „Acis et Galatée“ und einem Couperin-Album mit dem Sänger Cyrill Dubois auch eins mit der schweizerischen Mezzosopranistin Marina Viotti: „A Tribute to Pauline Viardot“. Was ist der Hintergrund?

Kennengelernt haben wir uns bei einer Produktion von Rossinis „Turco in Italia“. Sie hat nicht nur eine schöne Stimme, sondern auch einen sehr wachen Geist. Ich wusste, dass ich ein geeignetes Projekt für sie finden werde, und Pauline Viardot war der richtige Anknüpfungspunkt. Sie war eine große Sängerinnenpersönlichkeit des 19. Jahrhunderts, die Schwester von Maria Malibran, deren Karriere sie nach ihrem Unfalltod praktisch übernahm. Ihr Repertoire reichte von Rossini und Bellini bis zur französischen Oper, was perfekt für Marina passte. Auch wenn ich nach wie vor mit beiden Beinen im Barock stehe: Diese Herausforderung hat uns allen sehr gefallen, und wir sind alle daran gewachsen. Gounods Faust haben wir schon gemacht, und kürzlich haben wir auch Spontinis „Vestalin“ eingespielt. Mal sehen, wohin uns die Zukunft in Sachen romantischer Oper noch bringen wird.

Neu erschienen:

Gluck, Bellini, Massenet, Rossini u. a.

„A Tribute to Pauline Viardot”

Marina Viotti, Les Talens Lyriques, Christophe Rousset

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Erscheint am 14. Oktober:

Lully

„Acis et Galatée“

Cyril Auvity, Ambroisine Bré, Edwin Crossley-Mercer u. a., Les Talens Lyriques, Christophe Rousset

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Erscheint am 18. November:

Couperin

„The Sphere of Intimacy“

Cyrille Dubois, Christophe Rousset, Les Talens Lyriques

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Der Repertoire-Jäger

Christophe Rousset (Jahrgang 1961) stammt aus Avignon und spielt bereits seit seiner Kindheit Cembalo. Sein Sieg beim Cembalo-Wettbewerb Musica Antiqua in Brügge im Jahr 1983 verschaffte ihm den internationalen Durchbruch. Neben seiner Solo­karriere wirkte er als Cembalist in William Christies Ensemble Les Arts Florissants mit, eher er Anfang der 90er-Jahre mit Les Talens Lyriques seine eigene, bis heute sehr erfolgreiche Alte-Musik-Formation gründete. Bis heute haben er und sein Ensemble ihr Repertoire stark erweitert. Zu Roussets herausragenden Aufnahmen als Cembalist zählen die Gesamteinspielungen der Klavierwerke von Jean-Philippe Rameau und François Couperin.

Stephan Schwarz-Peters, 03.09.2022, RONDO Ausgabe 4 / 2022



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