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N° 1353
13. - 21.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Weitblick: Schlagzeuger Max Riefer und Gäste beim Apéro mit Meerblick – im Rahmen von „Kammermusikfest to go“ © Francesco Ubertalli, Simone Coppola

Kammermusikfest Sylt

Zu immer neuen Ufern

Seit einer Dekade voller Entdeckerfreude sorgt das Festival für unerwartete Töne auf der Ferieninsel.

„Wie wunderschön!“ Fasziniert blickt Claude Frochaux auf den bunten Halbkreisbogen, der sich über das weite Klappholttal spannt. „Ich habe noch nie in meinem Leben einen vollständigen Regenbogen gesehen.“ Kurz zuvor war ein sommerlicher Schauer über Sylt niedergegangen, nun wölbt sich das spektralfarbenprächtige Lichtband über das Dünental im Norden der Insel: eine Landschaft wie aus einer anderen Welt, voller Heckenrosen und Heidepflanzen, windschiefer Kiefern und Dünenkämme, hinter denen sich ein schier endloser Strand und die Weite der Nordsee eröffnet. Und als stünde die Zeit stille, verharrt auch der Cellist versunken in den Anblick dieses Naturschauspiels…
Dabei wartet das Publikum auf den 43-Jährigen, soll in weniger Minuten das traditionelle Nachtkonzert in der Akademie am Meer beginnen und der Italiener mit seinen Musikerfreunden Robert Schumanns für Streichtrio und Oboe arrangierte „Mondnacht“ anstimmen. Aber manchmal überwältigen die hiesigen Schauspiele der Natur Frochaux einfach – selbst noch nach einem Jahrzehnt als künstlerischer Leiter des Kammermusikfestes Sylt. 2012 hatten der enthusiastische Lockenkopf und sein Architekten-Freund Malte Ruths die Idee, für eine Woche im Juli ihr Lieblingseiland von List bis Hörnum mit Musik zu überziehen. Festivalmacher-Erfahrung hatten beide bis dahin nicht, doch dafür mit Ruths elterlichem Domizil in Kampen einen Initiationspunkt und Kontakte auf der Deutschen liebsten Nordsee-Ferieninsel. Und sie sahen den Vorteil eines Eilands als Festspiel-Ort: Wer hier weilt, sucht nicht andernorts nach Anregung oder Muße, sondern allein auf der Insel selbst.
Was natürlich auch für das gute Dutzend Musiker gilt, die hier seither in den letzten Julitagen zusammenkommen, um als kleine große Familie die Konzertprogramme einzustudieren. Allsommerlich unter wechselnden Themen von „Wunderkinder“ bis WahnsinnsLiebe“ konzipiert, sucht Frochaux dabei nach Bögen und Wegen, mehr als „nur“ schöne Kammermusiken zu kreieren oder Werke anzusetzen, deren Erfolg allein schon durch ihre Popularität garantiert ist. „Jedes Jahr soll ein neues Flair haben“, skizziert der Streicher seinen Ansatz, der nicht allein die Jahrhunderte verbindet, sondern inzwischen auch bewusst die Auseinandersetzung (des Publikums) mit der Moderne sucht. Sei es zum Auftakt des diesjährigen Jubiläumsprogramms „Zehn“, wo ein Rumba des erst vor zwei Jahren verstorbenen Ezio Bosso auf das träumerische Adagio des Barockkomponisten Alessandro Marcello traf – oder auch im Abschlusskonzert, wo sich in der harmonisch völlig freien, allein rhythmisch eng zusammengehaltenen „Action Music“ von Erik Griswold Klavier, Oboe, Horn, Klarinette und Schlagzeug begegneten. Klanglich eher harte Kost für Mozart-affine Ohren – und doch offenbarte das Publikum auch hier seine Neugier und lauschte konzentriert. Selbst wenn es am Ende naturgemäß mehr Beifall gab für Wolfgang Amadeus Mozarts sonnenlichtdurchflutete, herrlich inspirierte und natürlich durchpulste Sinfonia concertante mit einer anmutig phrasierenden Geigerin Priya Mitchell – oder für das finale, ausladende Sextett Ernst von Dohnányis, dessen weites, reiches Ausdrucksspektrum die Musiker gekonnt ausreizten.

Aufbruch zum Neuem

Mag auch nicht jedes dramaturgische Konzept aufgehen – die beiden Tänzer der Dresdner Palucca-Hochschule zu Arvo Pärts bewusst reduziertem Werk „Spiegel im Spiegel“ waren etwa schlicht zu viel – so nötigt allein schon der Aufbruch zu Neuem Respekt ab. Ebenso wie der Mut zu eher unbekannten Komponisten: Mykola Lyssenko, Gustav Jenner, Osvaldo Gulijov oder Tazul Tajuddin sind wahrlich keine gängigen Namen auf Kammermusik-Programmen und auch Enescus eingängige „Aubade“ oder Martinus originelles Quartett für Klarinette, Horn, Cello und kleine Trommel eher selten im Konzertalltag zu hören. „Über die Jahre habe ich unser Publikum kennen- und einzuschätzen gelernt“, lächelt Frochaux. „Vor allem aber vertraut das Publikum uns – und so hat das Programm mehr in den Vordergrund treten und auch kompromissloser werden können.“
Was im ersten Moment so gar nicht zum Klischeebild von Sylt als Hort der schönen und reichen Dekadenz passen will. Und doch offenbaren sich vielleicht gerade hier die so verschiedenen Seiten einer Insel, die nicht zuletzt durch die Schönheit ihrer Natur und die Vielfalt ihrer Konzertstätten selbst Hardcore-Klassikfans als Festivalort fasziniert: Wo sonst in der Klassikwelt kann der Besucher schon Bruchs friedlich-sanftem „Nachtgesang“-Trio auf einem Logenplatz wie im BeachHouse in den Westerländer Dünen lauschen. Und dabei zugleich den Panoramablick über die stürmische See und die am dunklen Abendhimmel dahin jagenden Wolken schweifen lassen?!

www.kmfsylt.de

Sprung ins Unbekannte

Europa, USA, Asien: Gemeinhin ist Dirk Mommertz mit dem Fauré Quartett weltweit in den großen Konzerthäusern unterwegs – doch die eine Woche im Juli für Sylt hat der Pianist seit zehn Jahren fest geblockt. Der Sprung ins Unbekannte (wie auch in die Nordsee) hatte den Kammermusikprofessor seinerzeit gereizt: „Vom Festspielfrühling auf Rügen weiß ich, was solch ein Aufbruch an Freude, Glück und Leidenschaft mit sich bringt“, sagt der 47-Jährige. Gerade letztere habe sich das Kammermusikfest bis heute bewahrt – „und das Publikum hier freut sich auf neue und unbekannte Werke“. So wie der gebürtige Mainzer allsommerlich wieder auf den Strand und die unberührte Natur am „Ellenbogen“.

Christoph Forsthoff, 30.07.2022, Online-Artikel



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