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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Startseite · Interview · Blind gehört

(c) Johannes Ritter

Blind gehört - Dorothee Oberlinger

„Jetzt haben Sie mich erwischt“

Die Flötistin Dorothee Oberlinger, geboren 1969 in Aachen, ist die bedeutendste Vertreterin ihres Instruments in Deutschland. Aufgewachsen im Hunsrück, studierte sie in Köln bei Günther Höller und Walter van Hauwe sowie in Mailand bei Pedro Memelsdorff. Seit 2004 ist sie Professorin am Mozarteum Salzburg (zwischenzeitlich als Leiterin des Instituts für Alte Musik). Seit 2018 leitet sie die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci. Ihre Aufnahmen erscheinen bei der deutschen harmonia mundi, zuletzt die Oper „Polifemo” von Giovanni Battista Bononcini und „Bach: Dialoge“, ein Duo-Album mit dem Lautenisten Edin Karamazov. Oberlinger ist verheiratet und lebt in Köln. Im Blindtest ist sie durch keinen Flötenton zu verwirren. Aber mit Klavier.

Das ist Corellis Violinsonate op. 5, Nr. 11, bearbeitet von Francesco Geminiani als Concerto grosso mit Streichern. Und es ist Maurice. Er hat dieses Stück mit irrsinnig schön ausgeschriebenen Verzierungen von Pietro Castrucci eingespielt, die mich sehr inspiriert haben und die ich nun auch gerne im Konzert spiele. Castruccis Verzierungen sind extrem ziseliert und im vermischten Stil. Es gibt ja auch die Verzierungen des Drucks aus Amsterdam 1710, von denen wir nicht wissen, ob die von Corelli selber stammen, ihm nur abgelauscht oder einfach nachträglich hinzugefügt wurden, dort bilden sich immer große Inseln mit notiertem Rubato, 7 oder 9 auf einem Schlag. In dieser Version ist alles rhythmischer ausgeschrieben und sehr exzentrisch. Dem folge ich gern.
Die Sarabande spiele ich um einiges schneller als er. Maurice Steger ähnelt hier fast dem japanischen Nō-Theater: in Zeitlupe. Ich orientiere mich mehr am Tanz. Und klinge ohnehin anders. Inwiefern? Ich habe von Haus aus ‚schnellere Luft‘, die daher kühler ist, was einen brillanteren Klang erzeugt. Mein Atem geht von Haus aus erstmal schneller. Ich arbeite stetig daran, meine Luft wärmer und langsamer fließen zu lassen. Maurice dagegen als gebürtiger Skifahrer ist sehr geerdet und arbeitet immer sofort mit dem ganzen Körper, mit viel Luft und langsamem Atem.

Corelli

Flötenkonzert Nr. 10 (Steger; 2009)

harmonia mundi

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Ist ja süß! Es handelt sich um die a-Moll-Sonate von Händel, in einer älteren Aufnahme mit Frans Brüggen. Im selben Jahr wurde ich geboren. Die nachgebauten Instrumente von heute hatte man damals noch nicht. Brüggen nahm eigentlich die Technik der modernen Böhm-Flöte, und übertrug das auf den Barock. Vibrato wurde noch viel großzügiger eingesetzt. Es war sozusagen ein Grundgewürz. Aber dann gibt es da eben diese ungeheure Klangschönheit, die nur Brüggen hatte. Er spielte – großer Mann, der er war – grundsätzlich im Sitzen. Das ergab eine ,Kammermusik-Haltung‘, in der ihm die meisten seiner Schüler auch gefolgt sind. Es war sozusagen eine: Revolution im Sitzen. Man ,saß an‘ gegen den hierarchischen Musikbetrieb. Ich wiederum stehe lieber. Man spielt ja auch mit den Füßen. Da spüre ich im Stehen die Erdung besser. Frans Brüggen aber, da gibt es nichts, ist immer noch ein großes Vorbild.

Händel

Sonate a-Moll op. 1, Nr. 4 (Brüggen, Bylsma, Leonhardt; 1969)

Teldec/Warner

Das ist natürlich die h-Moll-Sonate von Bach. Es könnte Michala Petri sein. Ja, ist sie! Ganz heller Klang. Sehr fokussiert. Klar und glockig. Sie spielte damals und auch heute noch weniger ,sprechend‘, weniger rhetorisch als wir das tun. Ihre Flöte – die ist einen Halbton höher, im heutigen Stimmton 440 Hz – klingt schwebender, linearer, ohne „gute“ und „schlechte“ Zeiten. Rhetorik und Artikulation sind nicht so stark im Fokus. Ich würde sagen, es handelt sich eher um einen „modernen“ Ansatz, wenig inspiriert von der historisch informierten Aufführungspraxis. Wichtiger wäre mir zu sagen: Mir gefällt das trotzdem gut. Michala Petri hat einen sehr persönlichen Klang, spielt mit unglaublicher Brillanz und Perfektion. Eine konzentrierte Auswendigspielerin ist sie auch. Ihre Karriere dauert an, ich kriege ihre Projekte auf Facebook manchmal mit. Wir müssten hier wohl die Aufnahme mit Keith Jarrett am Cembalo vor uns haben. Merkwürdig, dass Keith Jarrett vom Jazz eigentlich kaum etwas mit hinübergenommen hat. Ich liebe sein unvergessenes „Köln Concert“. Jazz besteht nicht zuletzt in der Kunst des Timings. Und genau davon spüre ich hier, seltsamerweise, wenig.

Bach

Sonate h-Moll BWV 1030 (Petri, Jarrett; 1982)

RCA/Sony

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Die Aufnahme klingt in meinen Ohren ein wenig blechern. Ist das da gerade eine Traversflöte? Sehr sauber gespielt. Wer komponiert denn da?! Das ist nicht Händel, und auch nicht Telemann. Das klingt so fein. Ist sehr charmant gespielt. Ich höre da fast schon den galanten Stil. Oder liegt das nur daran, wie diese Musik gespielt wird? Sehr schön jedenfalls. – Reinhard Keiser?! Das hätte ich nicht gedacht. Aber klar – Gänsemarktoper, Telemann, Händel – da hat Keiser eine prägende Rolle gehabt. Den Komponisten finde ich sehr interessant. Aber wieso klingt das denn hier so anders als ich den Komponisten kenne? – Hans-Martin Linde? Aha. Dann wundert mich nicht, dass es so schön gespielt ist. Er sitzt selbst an der Traversflöte. – „Die großmütige Tomyris”? Das werde ich mir merken.

Keiser

„Die großmütige Tomyris“ (Linde-Consort, Linde; 1988)

EMI

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Na also, Andreas Scholl. Ihn erkennt man doch sofort. Und das ist natürlich auch eine Stärke, gar nicht selbstverständlich. Scholl besitzt eine beinahe ,flötige‘ Stimme. Er kann aber auch wie eine Oboe klingen, wenn er will. Ich hörte ihn erstmals, als er Giulio Cesare sang, mit Cecilia Bartoli in Salzburg. Scholl hat ganz einfach unglaublich viele instrumentale Farben. Ach, wie schön! Wie japanisches Essen, so sehr verfeinert. Nur dass sich Andreas aus asiatischem Essen, glaube ich, gar nicht viel macht. Genauso unschlagbar ist jedenfalls auch der uralte Alfred Deller. Den kennt heute schon kaum noch jemand. Es gibt so wundervolle, alte WDR-Aufnahmen von 1953. Ein Urvater, den man mal hören sollte.

Händel

„Ombra mai fu“, aus: „Serse” (Scholl, Orch. of the Age of Enlightenment, Norrington; 1998)

Decca/Universal

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Jetzt haben Sie mich doch erwischt. Mit sowas können Sie mich aufs Glatteis führen. Ich höre doch nie Klavier. Und ich glaube, bei Beethoven ist Schluss für mich. Dennoch gefällt mir das. Sehr affektreich, mit Biss gespielt. Sehr sprechend, sehr erzählend. Kristian Bezuidenhout hat das nicht gemacht. Andreas Staier kann es aber auch nicht sein. Ich glaube, der wäre strenger. – Was, doch Staier?! Das hätte ich ihm nicht zugetraut. Da zeigt sich eben der großartige Interpret. Daran nämlich, dass man ihn manchmal nicht erkennt. Ich find’s toll.

Schumann

Abegg-Variationen op. 1 (Staier; 2013)

harmonia mundi

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Das bin ja ich. Da kenne ich jeden Ton. Ich erinnere mich an die Aufnahmesituation, damals im Deutschlandfunk. Das Gute an Aufnahmen ist ja, dass man sich endlich einmal von außen hört. Da kann man viel lernen. Vor allem: Lass dir Zeit! Man spielt völlig anders als im Konzert, kann auch mal weniger machen. Übertrieben schnelles Spiel zum Beispiel, das nervt einfach im Studio. Nur im Konzert dagegen gibt es das Adrenalin. Den Flow. Das ausgeschaltete Denken. Die besten Konzerte, an die ich mich erinnere, hatten immer mit etwas Unvorbereitetem, Unvorhergesehenem zu tun. Der Flötenbauer Ernst Meyer war gestorben, und ich erfuhr es, mit dem von ihm gebauten Instrument in der Hand, als ich gerade in Salzburg auf die Bühne ging. Unvergesslich. Oder: Il Giardino Armonico ist nicht rechtzeitig zum Konzert gekommen. Da hieß es: „Einfach raus!” Irgendwas machen. Und los. In solchen Situationen hebt man ab. Wenn es nämlich gut geht! Wenn nicht, würde ich mich jetzt nicht so gern dran erinnern.

Corelli

Sonate C-Dur op. 5, Nr. 3 (Oberlinger; 2007)

dhm/Sony

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Erscheint am 3. Juni:

Telemann

„Pastorelle en musique“

mit Teuscher, Lys, Mühlbacher, Götz, Hartinger, Vocal Consort Berlin, Ensemble 1700, Oberlinger

dhm/Sony

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Robert Fraunholzer, 04.06.2022, RONDO Ausgabe 3 / 2022



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