Das »Deutsche Requiem« von Johannes Brahms ist vor allem ein Chorstück, und man wird sich darum bei der Wahl einer Einspielung nicht in erster Linie an der Qualität der beiden Gesangssolisten orientieren. Allerdings treten Sopran und Bariton dreimal sehr exponiert und dezidiert in Erscheinung, und ihre Partien sind durchaus eine Herausforderung. Darum sei hier bei der Bewertung von sechs in letzter Zeit erschienenen Einspielungen doch mit den Solisten begonnen: Bei Klemperer (1956), der einzigen historischen Version, hören wir den jungen Hermann Prey in großartiger Form, herrlich timbriert, mühelos, unmittelbar, offen – eine Pracht. Ihm gleich tut es Elisabeth Grümmer, deren Wärme und Fülle in der großen Trauer-und-Trost-Arie schwer erreichbar ist. Allein Chen Reiss (Mehta) agiert noch mit vergleichbarer technischer Souveränität, aber ohne Grümmers Charisma. Viel weniger beglückend schon die schmallippige und etwas spitze Ruth Ziesak (Albrecht), indiskutabel Natalie Dessay (Järvi) mit ihren vielen künstlichen Portamenti und affektierten Crescendi – fast eine Karikatur. Unter den Baritonen beeindruckt noch Ludovic Tézier (Järvi), der bei »Herr, lehre doch mich« eine fesselnde Stimmung bedrohlicher Ernsthaftigkeit herzustellen versteht: Urgewalt einer eindrucksvollen Stimme. Dagegen singt Hanno Müller- Brachmann (Mehta) auf den scheppernden Resten seines Materials herum, und Konrad Jarnot (Albrecht) ist mit seinem gepressten Hau-drauf-Stil weiter auf dem besten Wege dahin. Auch Thomas Hampsons Cantor-doctus-Version (Harnoncourt) begeistert nicht wirklich. Und Detlev Roth (Janowski) bewegt sich ein wenig im unteren Grenzgebiet dessen, was das Stück in puncto Materialfülle erfordert.
Dann also, leicht resigniert, zurück zu Klemperer? Ganz so einfach ist es nicht. Das Werk steht und fällt, wie gesagt, mit dem Chor, und der Kölner Rundfunkchor entsprach 1956 dem Chorideal der damaligen Zeit, für unsere Ohren klingt das streckenweise bieder und schwerfällig, vor allem im Diskant – schade: Wenn die Männer kurz allein zu hören sind, verbessert sich der Eindruck augenblicklich. Aber zieht man etwa für den vierten Satz (»Wie lieblich sind deine Wohnungen«) den Schwedischen Rundfunkchor (Järvi) zum Vergleich heran, dann tun sich angesichts der edlen Klangkultur und Geschmeidigkeit dieses Ensembles einfach ganz neue Welten auf. Blasser und etwas eindimensionaler, auch nicht immer ganz intonationsrein präsentiert sich dagegen der Münchener Bach-Chor (Albrecht). Verstörend uneinheitlich agiert der Gary Bertini Israeli Choir (Mehta) mit lausig klappernden Absprachen, herauswimmernden Einzelstimmen und Kieksern – Modell Telefonchor aus Gesangsstudenten, die von Chorliteratur keinen Schimmer haben. Wie differenziert, kultiviert und präzis singt dagegen der Arnold Schönberg Chor unter der umsichtigen Leitung von Nikolaus Harnoncourt, begleitet von den Wiener Philharmonikern mit der diesem Klangkörper eignenden einzigartigen Wärme! Chorisch-orchestral ist diese Einspielung ebenso ein Sonnenstrahl wie auf ihre schlankere, filigranere Art auch die erwähnte unter Järvi. Gegen diese beiden fällt Janowskis tendenziell sterilere und glattere Einspielung mit dem gleichwohl gut disponierten Rundfunkchor Berlin in Sachen Ausdrucksintensität ein wenig ab. Es bleibt letztlich die Qual der Wahl: Man greife zurück auf Klemperer und lebe mit dem antiquierten Chorideal, oder erfreue sich an Harnoncourts und Järvis überzeugender chorisch-orchestraler Gesamtleistung und nehme die durchwachsenen solistischen Darbietungen hin.
ICA/Naxos
RCA/Sony
Virgin/EMI
Oehms/harmonia mundi
Pentatone/Codaex
Helicon/harmonia mundi
Michael Wersin, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 3 / 2011
Herznote
Mit „Parfum“ glückt der deutschen Sopranistin ihr bislang bestes […]
zum Artikel
„Die Vergangenheit holt mich ein“
Seinen 70. Geburtstag feiert der belgische Dirigent und Pianist am 9. November. Mit seinem […]
zum Artikel
Namen, Nachrichten, Nettigkeiten: Neues von der Hinterbühne
Cecilia Bartoli hat mit der Glatze abgeschlossen. Und für das Cover ihrer neuen CD „St […]
zum Artikel