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N° 1353
13. - 21.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Startseite · Interview · Blind gehört

(c) Giorgia Bertazzi

Blind gehört - Martin Helmchen

„Wenn ich so könnte, wie ich wollte, würde ich sagen: Langweilig“

Martin Helmchen, geboren 1982 in Berlin, ist der neben Lars Vogt wohl wichtigste deutsche Pianist der Gegenwart. Er studierte in Hannover bei Arie Vardi und wurde gefördert unter anderem von Alfred Brendel. Zu seinen wichtigsten Aufnahmen zählen die Beethoven-Violinsonaten gemeinsam mit Frank-Peter Zimmermann, Messiaens Klavier-Zyklus „Vingt regards sur l’enfant-Jésus“ sowie die Schostakowitsch-Klavierkonzerte unter Vladimir Jurowski. Mit seiner Ehefrau, der Cellistin Marie-Elisabeth Hecker, und den ­gemeinsamen vier Kindern lebt Helmchen in der Niederlausitz. In der Blindprobe lässt sich der Pianist nicht aufs Glatteis führen – nicht mal mit eigenen Aufnahmen oder denen von seiner Frau.

Ich tippe auf einen Russen. Da ist das zu hören, was man gelegentlich Emil Gilels und Swjatoslaw Richter vorwerfen kann, wenn sie – in nicht ganz so perfekten Momenten – große Wucht entfalten, aber nicht gerade auf der eleganten Seite landen. So sehr ich besonders Gilels verehre, so muss ich das doch einräumen. Da Gilels Schumanns Toccata, glaube ich, nicht eingespielt hat, dürfte es sich also um Richter handeln. Einer der besten Techniker, fraglos. Es gibt Berichte von Aufnahme-Sitzungen, bei denen die demütige Grundauffassung, nach der er sich stets hinter das Stück zurücknahm, umkippte ins andere Extrem. Es ging darum, auch jedes kleinste, vorbereitete Detail perfekt zu realisieren. Bei einer Liszt-Session war das beim 17. Take, während Richter von Mal zu Mal nicht besser geworden war. Da fehlte Flexibilität, die Lust am Augenblick. Hier vielleicht auch ein bisschen.

Schumann

Toccata, op. 7 (Richter; 1966)

Decca/Universal

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Es gibt gar nicht so viele Aufnahmen des 1. Klavierkonzerts von Mendelssohn. Anfangs dachte ich an Rudolf Serkin. Aber dafür ist es wohl doch zu wild und unbändig. Oh, wunderbar!! Das springt einen geradezu an, ist aber trotzdem nicht over the top. Es bleibt noch Mendelssohn. Mir fällt dazu niemand ein. Für Perahia klingt es zu unbändig und stürmisch. Die Preisklasse aber muss es sein. – Was, doch Serkin?! Ich hätte gemeint, dass er heute nicht mehr so stürmisch wirken würde wie damals. Weil viel Zeit vergangen ist. Diese Aufnahme ist völlig frisch und auf ihre Art radikal geblieben. Meine Hochachtung!

Mendelssohn

Klavierkonzert Nr. 1 g-Moll, op. 25 (Serkin, Philadelphia Orchestra, Ltg. Ormandy; 1965)

CBS/Sony

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Das ist Julian mit Beethovens „An die ferne Geliebte“. Ich kenne Julian Prégardien ja von gemeinsamen Projekten. Er hat diese unglaublich schöne Art, welche mich – gleich von Anfang an – unheimlich an den Cello-Ton meiner Frau erinnert hat. Ich meine damit diese Fähigkeit, Töne ohne Vibrato ‚kommen‘ zu lassen – und erst im letzten Moment ‚anzuwärmen‘. Durch ein verzögertes Vibrato, sozusagen. Der Ton ist rein und gerade und kriegt durch diese Veränderung im letzten Augenblick eine ganz tolle Expressivität. Ich kenne sonst niemanden, der das sonst so macht.

Beethoven

„An die ferne Geliebte“ (J. Prégardien, Schnackertz; 2013)

Myrios Classics/hm

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Sehr schnell. Wesentlich schneller sogar als Messiaen vorschreibt. Was nicht heißt, dass es nicht doch Messiaens Ehefrau Yvonne Loriod sein könnte. Man braucht hier als Interpret die Fähigkeit, die langsamen Tempi überhaupt auszuhalten. Das ist das Kunststück hierbei. Es sind nämlich die vielleicht langsamsten Stücke der Musikgeschichte, und diese Langsamkeit ist für den Pianisten eine geradezu körperliche Belastung. Sehr schwer zu ertragen. Von dem berühmten Klavierlehrer Heinrich Neuhaus gibt es den Satz: „Langsam und leise ist schwerer als laut und schnell.“ Letzteres können ja alle. Bei dieser Musik spürt man das Unbehagen gegenüber dem geweiteten Raum. Wenn man es aber aushält und es sich auf das Publikum überträgt, dann ist das etwas ganz und gar Fantastisches. Roger Muraro? Nein?! Auch nicht Yvonne Loriod? Na, dann muss es doch deren Schüler Pierre-Laurent Aimard sein.

Messiaen

„Vingt regards sur l’enfant-Jésus“ (Aimard; 1999)

Teldec/Warner

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Wenn ich so könnte, wie ich wollte, würde ich sagen: Langweilig. Als Frank Peter Zimmermann und ich diese Werke aufnahmen, haben wir uns natürlich viele Schnipsel von früher angehört. Ich bin aber, wenn ich das hier so höre, doch dankbar über den Einfluss der historischen Aufführungspraxis. Hier fehlen mir Richtung, Schwung, Sprache, Satzbau. Es säuselt so ein bisschen vor sich hin, ist mir zu langsam. Ich finde, die Kammermusik wurde damals vielfach noch nicht so richtig ernst genommen. Zu Anfang habe ich gedacht: Arthur Grumiaux und Clara Haskil. Sie spielen aber nicht auf dem Niveau wie sonst. Sehr genrehaft, wenn nicht sogar ein bisschen seicht. Es überzeugt mich gar nicht. So schön dieser Ton von Grumiaux auch sein mag: Ich bin ich nach drei Takten satt davon. Mit anderen Worten: Sie sind es hoffentlich nicht. Aber ich fürchte, sie sind es am Ende dann vielleicht doch?

Beethoven

Sonate F-Dur, op. 24 „Frühling“ (Grumiaux, Haskil; 1956/57)

Decca/Universal

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Erst meinte ich, das ist meine eigene Aufnahme. Wegen der Pedalisierung. Aber diesen Subito Pianissimo-Effekt, den habe ich an der Stelle nicht. Es könnte Richard Goode sein. Aber das ist nicht so leicht zu sagen. Das Problem bei Mozart ist, dass es sehr leicht zu viel ist, aber auch sehr leicht zu wenig. Die Mitte zu finden ist schwer. Dies hier überzeugt mich schon. Es ist jemand, der viel Mozart spielt. Ich fühle mich an meine Lieblingsspielerinnen erinnert: Clara Haskil, Ingrid Haebler, Mitsuko Uchida, aber auch an Brendel und Perahia. Ich komm nicht drauf. – Was, Daniel Barenboim? Schau an. Da wär’ ich vielleicht doch nie drauf gekommen.

Mozart

Klavierkonzert Nr. 21 C-Dur, KV 467 (Barenboim, English Chamber ­Orchestra, Ltg. Barenboim; 1968)­

Warner

Das sind wir, oder? Ich höre den unglaublich fragilen Tetzlaff-Ton, über allem schwebend. So leise traut sich das keiner sonst. Dann ist da der sehr ausdrucksvolle Bratschen-Akzent von Antoine Tamestit. Und an die Grundanlage erinnere ich mich auch. Ein stets pulsierendes Schwingen wollten wir, das Gegenteil davon wäre das Statische. Tänzerisch muss es sein, mit Lust an polyphoner, in sich gleichberechtigter Kammermusik. Hier hatten wirklich alle enorm Lust an der Sache. Ich hatte mir die Musiker übrigens selber nach meinen Wünschen zusammengesucht. Christian kam um sechs Uhr früh, und wir haben direkt vor der Aufnahme geprobt. Leider wird dieses Album nur noch bei Großbestellungen wieder aufgelegt.

Schubert

Forellen-Quintett, D 667 (Helmchen, Tetzlaff, Tamestit, Hecker, Posch, Baerten; 2008)

Pentatone/Naxos

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Sehr schön. Marie-Elisabeth, oder?! Mit der Kremerata. Schön, finden Sie nicht? Jeder Ton hat eine Bedeutung. Es überträgt sich ständig auch etwas emotional. Das ist nicht einfach eine Tonleiter, kein bloßes Crescendo, sondern da ‚spricht mir etwas zu‘. Bei kaum jemandem habe ich so sehr das Gefühl, dass mir jemand mit größter Ehrlichkeit, dass es nicht anders sein könnte, etwas sagt und zusingt. Sie gibt alles dazu, was sie irgendwie hat, und verbiegt trotzdem kein Jota an der Komponistenintention. Übrigens, wir hatten uns damals erst kurz kennengelernt.

Haydn

Cello-Konzert Nr. 1 C-Dur (Hecker; Kremerata Baltica; 2007)

Profil/Edition Günter Hänssler

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Robert und Clara Schumann

Novelletten, op. 21; „Gesänge der Frühe“, op. 133; „Soirées Musicales“, op. 6

mit Helmchen (an einem Bechstein-Flügel, 1860)

Alpha/Note 1

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Robert Fraunholzer, 09.04.2022, RONDO Ausgabe 2 / 2022



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