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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Jonas Holthaus / Sony Classical

Martin Fröst 

Keine Lust auf Komfortzone

Mit dem Album „Night Passages“ kreist der Klarinettist in intimer Trio-Besetzung um seine existenziellsten Musik-Erfahrungen.

Das Etikett vom musikalischen Grenzgänger ist mittlerweile arg abgenutzt. Denn allzu viele Tonkünstler und Tonkünstlerinnen nehmen es für sich schon in Anspruch, wenn sie sich als Zugabe einen Piazzolla-Tango gönnen. Für Martin Fröst aber gilt dieser Titel in seiner reinsten Bedeutung. Denn dieser in Schweden geborene Klarinettist, Dirigent, Entertainer, Projekt-Erfinder, Texter, Conférencier, Choreograf und Tänzer ist zwar immer noch an erster Stelle ein fabelhafter Klarinettist, dessen bannendes Spiel schon Sensation genug wäre. Nicht zufällig ist Fröst neben Miles Davis der bislang einzige Bläsersolist, der eine der höchsten Musikauszeichnungen der Welt erhalten hat, den Léonie-Sonning-Musikpreis.
Darüber hinaus aber ist er ruhelos unterwegs abseits der Pfade der Konvention, immer auf der Suche nach neuen Formen, Programmen und multimedialen Projekten. Was ihn dazu treibt, hat er einmal in einem Interview mit einem Kollegen zu Protokoll gegeben. „Spätestens als ich das Klarinettenkonzert von Mozart, neben Webers Solowerken halt die ewige Visitenkarte meiner Zunft, zum zweiten Mal aufgenommen habe, war mit klar, es muss auch noch etwas anderes kommen. Ich stellte mir immer vor, ich bin 85 Jahre alt und nicht sehr stolz, dass ich 1500 Auftritte mit Carl Maria von Webers Klarinettenkonzert absolviert habe. Eine Horrorvision! Also hab’ ich mir Gedanken gemacht und mich nach zwanzig Jahren ein wenig auf die Wild Side eingelassen.“
Die „Wild Side“, das sind Ideen wie etwa die der „Conductography“: Fröst gibt Werke mit einer bestimmten Choreografie in Auftrag und das Orchester reagiert frei auf seine Bewegungen. Alle zwei bis drei Jahre kreiert er ein neues Projekt, bei dem er in mehreren seiner oben genannten Begabungen auftritt und das er gemeinsam mit den Königlichen Philharmonikern Stockholm, dem jeweiligen Komponisten und Lichtdesignern entwickelt. Die beiden letzten Projekte tragen die sprechenden Namen „Genesis“ – mit Werken aus einem Jahrtausend Musikgeschichte – und „Retropia“ – eine Wortkomposition aus Retro und Utopia – mit Rückblicken zu Mozart und Beethoven und einem Ausblick auf künftige Formen von Musik. Wie etwa in „Emerge“ von Jesper Nordin für Klarinette, Orchester und „Gestrument“ – ein Gesten-Instrument. Dabei werden Bewegungssensoren an der Klarinette angebracht, die bewirken, dass jede Bewegung Frösts in Musik umgewandelt wird. „Space in the Air“ nennt sich dieses Gestrument, von dem Fröst überzeugt ist, es beinhalte „Musik-DNA“, denn jede Bewegung werde zu Klang.
Beim Zoom-Interview ist Fröst gerade für einige Wochen in Schweden, er bereitet sein nächstes großes Projekt vor: „Es heißt ‚Exodus‘, das ist die Fortsetzung der vorherigen Projekte, mit dem Swedish Chamber Orchestra (Anm., dem er seit der Saison 2019/20 als Chefdirigent vorsteht), dem Stockholm Philharmonic, großem Chor und einem Künstler, der Live-Paintings schaffen wird. Und ich spreche Texte zum Thema Exodus.“
Delikat wie ein Jazz-Trio
Zu diesem Mammut-Projekt im denkbar größten Kontrast steht das aktuelle Album „Night Passages“, das mit einer intimen Trio-Besetzung auskommt. „Das war eine Pandemie-Idee“, so Fröst. Denn eigentlich sollte in der Zeit, in der nun das Trio-Album entstanden ist, eine Mozart-Einspielung stattfinden, aber unter Abstandsregeln. Da entschied der Klarinettist: „Lass uns lieber warten, bis wir wieder zusammensitzen können“.
Dieses neue Album ist auf den ersten Blick eine krude Mischung, ein Kessel Buntes mit Hits aus Barock, Jazz und Folk von Jean-Philippe Rameau bis Richard Rodgers. Beim Reinhören aber wird sofort klar: Es handelt sich vielmehr um etwas äußerst Delikates, ein Konzentrat kammermusikalischer Kostbarkeiten und ein Zeugnis subtilster Kommunikation unter drei Musikern. Da ist kein Ton zu viel und kein Rubato überflüssig. Das Projekt begann spielerisch: „Ich fragte meinen sehr alten Freund, den Pianisten Roland Pöntinen, ob er mitmachen wolle und den Bassisten Sébastien Dubé aus meinem Orchester nach Arrangements. Dubé ist ein sehr guter Arrangeur und sagte schnell: ‚Lass uns dabeibleiben, es ist wie ein kleines Jazz-Trio‘. Und wir spielten diese Barock-Ensembles und Folk-Musik, wir experimentierten. In dieser Pandemie-Zeit war es ganz natürlich, diese intimen Nachtmusiken von Freund zu Freund zu spielen.“
Es gehe um seine sehr persönlichen Musik­erinnerungen, sagt Fröst, im Booklet schreibt er tiefergehend über die Hintergründe seiner Auswahl. Die Geschichten klingen ziemlich verrückt, wie etwa diese: „Ich habe eine Erinnerung aus der Zeit, bevor ich geboren wurde... Am Anfang war die Stille und die Nacht. Und in dieser Stille gab es Töne. Immer die gleichen Melodien von Purcell und Scarlatti, gesungen von meiner Mutter.“
Neben den eigenen Prägungen durch die ausgewählten Stücke ist Fröst vor allem das Element der Improvisation wichtig: „Das war eine große Bildungsreise für mich, in diesem Feld fühle ich mich noch nicht so zu Hause. Ich bin fasziniert von der Improvisation, sie ist in der Geschichte der Klassik ja leider verschwunden. Ich war immer schon jemand, der die Komfortzone verlässt. Das ist die Art, wie ich mich entwickle. Und der einzige Weg, es zu lernen ist, es zu versuchen. Es ist schade, dass wir das verloren haben, denn wir benutzen unsere Instrumente eigentlich nur in sehr eingeschränkter Weise, wenn man es vergleicht mit Mendelssohn, Beethoven, Bach oder Mozart, die ja alle Meister der Improvisation waren.“ Das Trio-Programm will Fröst auch mit auf Tour nehmen: „Wir planen das als Late-Night-Format, nach einem regulären Konzert.“
Auf die Frage, ob er wirklich Erinnerungen an die Zeit vor seiner eigenen Geburt hat, beharrt Fröst: „Ja, ich bin mir sicher! Das gleiche Gefühl hatte ich, bevor meine Tochter geboren wurde, bei bestimmten Stücken hat sie immer getreten, und immer an den gleichen Stellen. Ich erinnere mich daran, wie meine Mutter Scarlatti und Purcell sang. Meine ersten Erinnerungen sind ohnehin musikalische, keine Worte.“

Zuletzt erschienen:

Scarlatti, Purcell, Bach u. a.

„Night Passages“

mit Fröst, Pöntinen, Dubé

Sony

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Regine Müller, 09.04.2022, RONDO Ausgabe 2 / 2022



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