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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Justin Pumfrey

Haydn, Beethoven, Schubert

Walzer mit 33 Verlängerungen

Mitsuko Uchida mit den „Diabelli-Variationen“, Grigory Sokolov mit Haydn und Schubert: Zwei neue Alben huldigen Wiener Klaviergöttern.

Gut Ding will Weile haben, eine Prämisse, unter der Menschen mit wenig Geduld besonders zu leiden haben. Zum Beispiel Musikverleger wie der Österreicher Anton Diabelli (1781-1858), der 1819 mit seiner Idee, namhafte Tonschöpfer zu einem gemeinschaftlichen Variationen-Zyklus anzuregen, den Anstoß zu einer der größten Klavierkompositionen aller Zeiten gab. Die Entstehung von Ludwig van Beethovens „33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli“ ist aus dem Anekdoten-Heft der Musikgeschichte hinlänglich bekannt und wurde dort ihrerseits zum Thema figurativer Ausschmückungen. Beethoven selbst hat die Ungeduld seines Verlegers, sein drängend verzweifeltes Nachfragen nach der Beendigung der Komposition musikalisch-ironisch kommentiert: in der 22. Variation, die mit dem Anfang von Wolfgang Amadeus Mozarts „Don Giovanni“ beginnt, Leporellos Klage über ein Leben im Dauereinsatz für seinen Brötchengeber. Trotz der vorgeblichen 24/7-Verausgabung sollte es insgesamt vier Jahre dauern, bis Diabelli „seine“ Variationen in Empfang nehmen konnte.
Noch länger hat Mitsuko Uchida ihre Fans auf ihr neues Album warten lassen. Das letzte Mal hatte sich die japanisch-britische Grande Dame des Klaviers Ende 2016 unterstützt vom Cleveland Orchestra mit Mozart-Konzerten diskografisch zu Wort gemeldet. Nun nimmt sie, nach ihren Einspielungen der letzten fünf Sonaten aus den Jahren 2006 und 2007, den Beethoven-Faden wieder auf und präsentiert – nach einer Gesamteinspielung der Beethoven-Konzerte als Gast der Berliner Philharmoniker (s. S. 34) – ihre Version der „Diabelli-Variationen“. Kennengelernt hatte sie diesen pianistischen Meilenstein am Ort seiner Entstehung, in Wien, wo sie als Tochter eines Diplomaten aufwuchs und ihre musikalische Ausbildung erhielt. Wie oft sie ihn schon, mitunter auch in Gesprächskonzerten, in den Sälen der Welt zur Aufführung brachte, lässt sich kaum ahnen. Jedenfalls begleitet er sie schon ihr gesamtes Pianistinnen-Leben lang, was man der musikalisch gereiften, bis in kleinste Nuancen hinein aufmerksam ausgelauschten Live-Aufnahme anhört; hier begegnen sich Abgeklärtheit und quirlige Virtuosität in einem Yin-und-Yang-mäßigen Ausgleich, und könnte man philosophische Gedanken in Musik übersetzen, sie würden sich vermutlich genauso anhören.
Tatsächlich hätte Uchidas Diabelli-Album bereits 2020 in Angriff genommen werden sollen. Doch machte die Coronapandemie – wie so vielen anderen – auch diesem Projekt einen Strich durch die Rechnung. Immerhin konnte die Pianistin mit dem charmanten Wiener Tonfall die Aufnahme bei einer Aufführung an einem ihrer Lieblingsorte vornehmen: der ehemaligen Dorf-Mälzerei von Snape, die Benjamin Britten (1913-1976) Ende der 60er-Jahre zum Konzertsaal für sein Aldeburgh-Festival umbauen ließ und in dem Mitsuko Uchida bereits selbst mehrfach zu Gast war. In puncto Charme und akustischer Vorzüglichkeit kann es dieser größtenteils in Holz verarbeitete Konzertsaal locker mit einem anderen Ort aufnehmen, an dem Musikgeschichte geschrieben wurde: dem Haydnsaal im Eisenstädter Schloss Esterházy. Was Pracht und Ausstattung angeht, hat der nach seinem prominentesten Nutzer benannte dreigeschossige Saal mit seinem Marmor-, Stuck- und Deckenfresken-Überschwang jedoch eindeutig die Nase vorn.

Pilgerfahrt zum Übervater

Wo einst Joseph Haydn (1732-1809) als fürstlich-esterházyscher Hofkapellmeister den Taktstock schwang und seinen hochadeligen Dienstherren Sinfonie um Sinfonie präsentierte, treten noch heute prominente Künstler auf. Unter ihnen Mitsuko Uchidas Pianisten-Kollege Grigory Sokolov, der hier im August 2018 Werke des musikalischen Hausgotts zu Gehör brachte: von Haydns rund 60 Klaviersonaten die Nummern 32, 47 und 49 in den ungewöhnlich kombinierten Tonarten g-Moll, h-Moll und – extrem exotisch für die Zeit – cis-Moll. Früh schon in seiner sowjetischen Heimat zum Star avanciert, hatte es Ewigkeiten gedauert, bis der heute 72-jährige Sokolov auch im Westen die Aufnahme fand, die er verdient. Schuld daran ist nicht zuletzt das eigenwillige Auftreten des Pianisten mit dem sehr auf die „klassische“ Literatur beschränkten Repertoire, der PR-Aktionen in eigener Sache scheut wie der Teufel das Weihwasser, Interviews ebenso ablehnt wie Studio-Aufnahmen oder Auftritte mit Orchestern.
So ist denn auch der Mitschnitt seines Eisenstädter Recitals wieder einmal eine echte Sokolov-Veröffentlichung geworden, bei der die Saal-Atmosphäre ebenso plastisch eingefangen wurde wie das eigentliche musikalische Geschehen auf dem Podium. So deutlich, wie der Pianist jede Phrase, jeden Ton aus dem Notentext herausmeißelt, meint man auch die Schweißtropfen von seiner Stirn herabperlen zu sehen. Wer sich an gelegentlichen Hustern, Räusperern und Stuhlrückgeräuschen nicht stört, wird beim Hören den Eindruck nicht los, er wäre Zeuge einer Live-Veranstaltung. Deren zweiter Teil steht ganz im Zeichen eines weiteren Besuchers von Schloss Esterházy, nämlich Franz Schubert (1797-1828).
Der war einst hierher gepilgert, um das Grab von Joseph Haydn zu besuchen; zuvor aber hatte er schon als Musiklehrer in Verbindungen mit der Esterházy-Familie gestanden. Durch die Kombination der Haydn-Sonaten mit Schuberts späten Impromptus D 935 schließt Sokolov einen großen programmatischen Kreis, der über den musikgeschichtlichen Kontext des Albums hinausgreift und die eigene vorangegangene Diskografie miteinbezieht. Schon auf seinem 2016 erschienen Album, Mitschnitte aus Warschau und Salzburg aus dem Jahr 2013, konnte man ihn mit den vier „Vorgänger“-Impromptus op. 90 hören. Das letzte Stück dieser Sammlung, das As-Dur-Impromptu, ist auf dem aktuellen Album noch einmal zu hören – neben dem für Sokolov so typischen Reigen an Zugaben aller Epochen, diesmal von Rameau, Chopin, Griboyedov und Debussy.

Erscheinen am 8. April:

Der Mitschnitt aus Eisenstadt ist wieder einmal eine echte Sokolov-Veröffentlichung geworden:
So deutlich, wie der Pianist jede Phrase, jeden Ton aus dem Notentext herausmeißelt, meint man auch die Schweißtropfen von seiner Stirn herabperlen zu sehen.

Haydn, Schubert

„Grigory Sokolov at Esterházy Palace“

mit Sokolov

DG/Universal

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Beethoven

„Diabelli-Variationen“

mit Uchida

Decca/Universal

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Stephan Schwarz-Peters, 09.04.2022, RONDO Ausgabe 2 / 2022



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