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(c) STUDIO ZAHORA
Die amerikanische Pianistin Claire Huangci, geboren 1990 in Rochester (New York), ist die Tochter chinesischer Immigranten. Sechsjährig begann sie mit dem Klavier. Nach vier Jahren am Curtis Institute in Philadelphia wechselte sie 2007 nach Hannover zu Arie Vardi (dem Lehrer von Martin Helmchen, Beatrice Rana und Lahav Shani). 2018 gewann sie den Zürcher Concours Géza Anda. Ihre CDs, darunter Préludes von Rachmaninow, Nocturnes von Chopin sowie zuletzt Bachs Toccaten und Fugen, erscheinen beim Label Berlin Classics. Huangci lebt in Frankfurt a. M.
Natürlich bin das nicht ich. Noch weiß ich so einigermaßen, wie ich das auf der Platte gespielt habe. Gehört hatte ich vorher nicht sehr viel. Dies hier wird wohl der berühmte Glenn Gould sein. Sehr differenziert, mit unvergleichlicher Artikulation. Und merkwürdigen Verzögerungen. Die Tempi sind so langsam, besonders in den Choral-Teilen und in einigen Fugen, dass Gould zwei CDs daraus machte. Andere Teile sind dann wieder wahnsinnig schnell. Ich finde, es geht auch weniger extrem. Persönlich möchte ich die Werke ‚erzählen‘, so als wären es einzelne Geschichten. Dafür brauche ich einen gewissen Fluss. Dafür muss das Ganze in sich gut verbunden sein. Man muss es fließen lassen, auch bei Bach.
CBS/Sony
Das Stück kenne ich, der Interpret könnte Mikhail Pletnev sein. Sehr nuanciert, sehr subtil. Toller Anschlag. Ich würde es vielleicht ein bisschen schneller spielen. Trotzdem mag ich das. Ich finde es auch nicht romantisierend, denn es bleibt transparent. Yevgeny Sudbin könnte es sein. Die Triller: überaus brillant. Aber ich muss sagen: Ich komme nicht drauf. Wer ist das denn? – Ivo Pogorelich?! Naja, ein bisschen ähnlich so wie Pletnev ist das schon. Sehr klar, etwas polarisierend, und sehr schön ausdifferenziert. Sehr russisch irgendwie, finden Sie nicht? Ist hier, obwohl es sich um italienische Musik handelt, auch kein Nachteil.
DG/Universal
(Runzelt die Stirn.) Das klingt nach einer älteren Aufnahme. Vielleicht, weil es live mitgeschnitten wurde? Ein ‚goldener‘ Ton, der irgendwie mit der Idee eines goldenen Zeitalters spielt und sich darauf zurückbezieht. Der Pianist nimmt Risiken in Kauf, was ich natürlich gut finde. Sehr individuell, so wie etwa Argerich, Horowitz, Gilels oder Richter es täten. Mein erster Verdacht: Svjatoslav Richter. Aber das hier ist von einer geradezu schamlosen Virtuosität, wie sie nicht zu Richter passt. Das will ausdrücken: „Hier bin ich, und der Rest geht mich einen feuchten Kehricht an…“ Und das live, wow!! Ein Russe jedenfalls ist das nicht. – Was, Lang Lang?! Bei ihm, finde ich, ist es manchmal eine Frage des Geschmacks. Tolle Momente gibt es immer. Hier auch.
Sony
Ich muss zugeben, dass ich Ignaz Paderewski, obwohl ich sein Klavierkonzert gern spiele, nie selbst spielen gehört habe. Also würde ich hier vermuten, dass es vielleicht Arthur Rubinstein ist. Allerdings: Der macht die Fehler besser. Das hier ist eigentlich nicht ganz nach meinem Geschmack. Mit zu schwerer Hand gespielt. Hier tanzt jemand mit zu dicken Füßen. Ist das etwa doch Paderewski selber? – Na also. Jedenfalls, was für ein Virtuose! Es gab damals ein regelrechtes „Paddy-fever“: eine Parderewski-Hysterie. Er war auch der Erste, der Open Air auftrat.
APR/Note 1
Das ist Béla Bartók. Ein für meine Hände sehr herausfordernder Komponist. Man muss Dezimen greifen können. Yuja Wang kann das. Das klingt sehr modern, auch insofern, als Klavier und Orchester gleichwertig behandelt sind. Ich schätze, es wird Géza Anda sein. Ich kenne seinen Schumann und seinen Beethoven. Ein sehr klassischer Pianist. So sehr, dass Bartók, obwohl Anda mit ihm berühmt geworden ist, bei dem nach Géza Anda benannten Klavierwettbewerb in der Schweiz erst im letzten Jahr erstmals erlaubt wurde. Übrigens, kleine Hände wie bei mir können von Vorteil sein. Schnelle chromatische Läufe kriegen Sie mit kleineren Händen viel besser hin. Auch beim Überkreuzen der Hände sind sie günstiger. Bei Rachmaninow, Brahms oder selbst mit Schumanns Toccata hatte ich noch nie Probleme.
DG/Universal
Ich würde gern mehr mit Sängern zusammenarbeiten, so wie mit dieser Sängerin hier. Ich liebe zum Beispiel Christiane Karg, deren Stimme ein bisschen silbriger klingt. Ich höre auch gern Opern. Aida Garifullina, auch Sonya Yoncheva finde ich ganz großartig. Mein Vater dagegen spricht mehr von der älteren Generation an der Met. Er würde hier besser Bescheid wissen. Denn ich erkenne die Sängerin nicht. – Jessye Norman? Wow, würde ich mal sagen. Ich dachte früher immer, man müsse als Pianist auf den Sänger warten, weil der nicht immer im Tempo singt. Jedenfalls besteht die Kunst darin, mit den Sängern gemeinsam zu atmen, um die Stimmung schaffen, in welcher der Sänger alle Schattierungen bringen kann, zu denen er fähig ist. Hier – mit James Levine – klappt das sehr schön.
Orfeo/Naxos
Das ist Rachmaninow, und zwar erstaunlich nüchtern gemacht. Es handelt sich um eines meiner Lieblingsstücke, hier gespielt von Sviatoslav Richter. Richter war mein Lieblingspianist, als ich ganz jung war, und derlei wird man natürlich nie mehr im Leben los. Warum auch? Er ist hier zugleich ein bisschen auf der ungeduldigen Seite, wenn ich das sagen darf. Er hat das Ziel von Beginn an stark im Blick. Und gerade dafür, für seine Ungeduld, habe ich ihn geliebt. Es gab immer eine gewisse Elektrizität in seinem Spiel. Noch bei den ganz späten Konzerten, die eine sehr menschliche Seite, ganz nackt, an ihm zeigten. Noch immer einer der größten Künstler, die ich mir vorstellen kann.
Das ist eine der vier Toccaten, die ich selber aktiv im Repertoire habe. Auch aus Rachmaninows 24 Préludes spiele ich nicht mehr als zehn. Die anderen sind irgendwie nichts für mich. Der letzte Teil, die Fuge hier, ist sehr schwer, denn man muss streng und perfekt im Rhythmus bleiben, da liegt das Problem. Denn es muss ja zugleich leicht grooven und swingen, bei aller Symmetrie und rhythmischen Beharrlichkeit. Das könnte schon meine Aufnahme sein, aber ich bin nicht ganz sicher. Vielleicht doch eher Mahan Esfahani? Nein! Das bin ich. Ich kann es an bestimmten Verzierungen erkennen, die ich hinzugefügt habe. Ich habe diese Werke erst in der Covid-Zeit gelernt, und war sehr überrascht, dass jedes seine ganz eigene Stimmung hat. Darüber, diese frühen Werke zyklisch aufzuführen, brauche ich übrigens kaum nachzudenken. Das kriegt ein Pianist heute ohnehin nicht verkauft. Harter Tobak, sagt man. Aber so klingt das doch gar nicht!
Berlin Classics/Edel
Berlin Classics/Edel
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