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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Nationales Chopin Institut Warschau

Bruce Liu

Ein Teil des Mythos

Im Oktober gewann der Kanadier den Internationalen Chopin-Wettbewerb Warschau: ein Türöffner für eine große Pianistenkarriere.

Auf diesen Spitznamen musste Bruce Liu nicht lange warten. Soeben hatte er – als letzter Teilnehmer der dreitägigen Finalrunde – mit seiner Interpretation von Chopins e-Moll-Konzert das Publikum in der Warschauer Nationalphilharmonie von den Stühlen gerissen, als die Presse bereits erste öffentliche Vergleiche mit seinem Fast-Namensvetter Bruce Lee anstellte. Der Pianist und der Star unzähliger Martial-Arts-Streifen, passt das zusammen? „Ich glaube schon“, sagt Liu. „Ich versuche die gleiche Energie in mein Spiel zu legen wie er in seine Filme.“ Lachend fügt er hinzu: „Außerdem hilft er mir dabei, meinen Namen bekannt zu machen.“ Als ob Bruce Liu das nach seinem fulminanten Sieg in Warschau noch nötig hätte! Der Internationale Chopin-Wettbewerb ist ein Mythos, und wer ihn erfolgreich absolviert, wird Teil davon.
Seit 1927 im Fünfjahres-Rhythmus ausgetragen, hat die Ausscheidung viele Gewinner hervorgebracht, die später zu Giganten wurden; nicht nur Erstplatzierte wie Maurizio Pollini (1960), Martha Argerich (1965) und Krystian Zimerman (1975) sind darunter, auch zweite und dritte Preisträger wie Mitsuko Uchida (zweiter Platz 1970) oder Daniil Trifonow (dritter Platz 2010) haben an der Legende mitgestrickt. Neben der ehrfurchtgebietenden Tradition ist der Chopin-Wettbewerb auch für seine melodramatischen Wendungen bekannt. Großes Popcorn-Kino etwa lieferte Martha Argerichs wutschnaubender Abgang 1980, veranlasst durch ihre konservativen Jury-Kollegen, die den von „la Martha“ favorisierten Ivo Pogorelich am Einzug ins Finale gehindert hatten.
Fast Ehrensache, dass auch die jüngste Ausgabe im vergangenen Oktober nicht ohne Krimielemente über die Bühne ging. Erst wurde der Wettbewerb, der turnusmäßig 2020 stattgefunden hätte, aus Pandemiegründen um ein Jahr verschoben; dann meldete sich die Fraktion der Chopin-Fanatiker zu Wort, diesmal mit einem Protest gegen die Finalteilnahme des angeblich zu exzentrischen Spaniers Martín García García (der am Ende aber Dritter wurde); und schließlich diese letzte Finalrunde: Nachdem Bruce Liu dem Fazioli-Flügel die letzten rasenden Läufe des abschließenden Rondos entlockt hatte, rechnete jeder im Saal mit einer schnellen Bekanntgabe der Preisträger. Doch statt wie angekündigt 23.30 Uhr war es 2.00 Uhr nachts, als der Wettbewerbsdirektor mit dem Jury-Votum an die Öffentlichkeit trat: Bruce Liu hatte sich unter 87 Teilnehmern durchgesetzt und die 18. Ausgabe des Chopin-Wettbewerbs für sich entschieden. Endlich wurde Gewissheit, was viele im Saal und vor dem Fernseher längst geahnt hatten – wenn auch nicht der Preisträger selbst: „Ich war vollkommen überrascht als ich auf einmal meinen Namen hörte. Denn tatsächlich ist es so: Jeder, der es ins Finale schafft, kann auch Gewinner sein.“

Nie wieder Wettbewerb

Durch Bruce Liu hat der Chopin-Wettbewerb, in seinen Anfangsjahren eine fast rein polnische Angelegenheit, einen weiteren Internationalitätsschub erhalten. Das zeigt die Biografie des frisch gebackenen Preisträgers, der sich augenscheinlich weder durch den Erfolg noch durch die hierdurch ausgelöste mediale Aufmerksamkeit aus der Ruhe bringen lässt. 1997 wurde er als Sohn chinesischer Eltern in Paris geboren, zog bald nach Kanada und erhielt dort seine Klavierausbildung. Ihren Abschluss fand sie an der Université de Montrál, wo sich Bruce Liu als Schüler von Dang Thai Son, Chopin-Preisträger der „Skandalausgabe“ 1980, den letzten Schliff holte. „Trotz dieser ganzen Verbindungen zum Komponisten und zum Wettbewerb würde ich mich nicht als Chopin-Experten bezeichnen“, sagt Bruce Liu, der sich eher als pianistischen Generalisten sieht und eine besondere Schwäche für zeitgenössische Musik hegt. „Damit möchte ich mich gern noch mehr beschäftigen – auch wenn es schwierig wird, weil mir der Wettbewerb doch ziemlich viele Termine auf einmal beschert hat.“ Jeder Erfolg hat eben auch seine Nachteile.
Unglücklich scheint Bruce Liu über diese Entwicklung jedoch nicht zu sein. Zumal ihm, wie den meisten Künstlern, während der vergangenen Pandemiejahre ohnehin mehr Zeit zur Verfügung gestanden hatte als ihm lieb war. Jedoch: „In meinem Fall war das auch ein Glück. Ich glaube, ich habe den Wettbewerb nicht zuletzt deshalb gewonnen, weil ich so viel Raum hatte, mich vorzubereiten.“ Um seine Karriere jedenfalls muss sich der junge Pianist in nächster Zeit keine Sorgen machen. Diskografisch konnte er sie bereits mit einem vielbeachteten Solo-Album vorantreiben, das das Prestige-Label Deutsche Grammophon in einer bewährten Zusammenarbeit mit dem Warschauer Chopin-Institut, Gastgeber und Organisator des Wettbewerbs, bereits am 19. November veröffentlicht hat. Es enthält Live-Mitschnitte der Wettbewerbsrunden mit den von Liu dargebotenen Chopin-Stücken, darunter das berühmte Andante spianato oder die seltener zu hörenden Variationen über „Là ci darem la mano“, die Mazurken op. 33 und Ausschnitte aus den Etüden-Zyklen opp. 10 und 25. Eine weitere Visitenkarte, mit der sich Bruce Liu für die Weltspitze empfehlen kann. Denn nachdem er nun erfolgreich den Gipfel der Klavierkonkurrenzen erklommen hat, ist eines für ihn sicher: „Die Zeit der Wettbewerbe ist für mich vorbei.“

Zuletzt erschienen:

Chopin

Chopin: Klavierwerke

Liu

DG/Universal

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Tastenlöwenkäfig

Wenn sich die Teilnehmerliste eines Klavierwett­bewerbs sehen lassen kann, dann die des ­Internationalen Chopin-Wettbewerbs. Angefangen mit dem ersten Gewinner, dem Sowjetrussen Lew Oborin, haben sich hier reihenweise junge Pianisten eingefunden, die später große Karrieren gemacht ­haben. Zu den erfolgreichen Teilnehmern der letzten Jahrzehnte gehören der Chinese Li Yundi (1. Preis 2000), der Pole Rafał Blechacz (1. Preis 2005), der Russe Daniil Trifonov (3. Preis 2010) und der Koreaner Seong-Jin Cho (1. Preis 2015). Nicht minder ­prominent besetzt ist die Jury, der in der Vergangenheit auch Komponisten wie Maurice Ravel, Karol ­Szymanowski oder Witold Lutosłaski angehörten.

Stephan Schwarz-Peters, 12.02.2022, RONDO Ausgabe 1 / 2022



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