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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Roger Mastroianni

The Cleveland Orchestra

Ein Altmeister auf Neustart

Franz Welser-Möst glückt nach Jahren der CD-Abstinenz mit dem Cleveland Orchester ein ­kleiner Coup – mit Werken von Prokofjew und Schnittke.

Ein früherer Chefdirigent traf die Sache am besten, dabei die Qualität des Cleveland Orchestra am Entlarvendsten charakterisierend: „Wenn ich in Cleveland ein gutes Konzert dirigiere, kriegt immer noch George Szell die gute Kritik; wenn ich ein schlechtes dirigiere, bin ich es selbst gewesen.“ Also sprach Christoph von Dohnányi. – Beim Jüngsten der sogenannten „Big Five“ in den USA (Boston, Chicago, Cleveland, New York und Philadelphia) hielt die Regentschaft des ungarischen Dirigenten George Szell eigentlich nur 24 Jahre, dann starb er. Dennoch nagen alle Nachfolger an ihm bis heute. Vergebens.
Das bedeutet: Wenn das Cleveland Orchestra bis heute für Präzision und Tiefenschärfe, für handwerkliche Tugenden mehr als für ästhetische Originalität gepriesen wird, so geht das aufs Konto eines der großen Untoten der Interpretationsgeschichte. Dieser George Szell ... war ein Federfuchser. Ihm kam auf Genauigkeit und die pünktliche Befolgung des Notentextes fast alles an. Ein vermutlich noch einflussreicherer Dirigent namens Nikolaus Harnoncourt verachtete ihn dafür.
Harnoncourt kannte Szell noch aus seinen Zeiten als Orchestermusiker in Wien. „Ein Uhrmacher“ sei Szell gewesen, bar aller Fähigkeit zur Freiheit und zum musikalischen Risiko. So Harnoncourt. Daran mag etwas Wahres sein. In der großartigen Severance Hall, einem der besten Konzertsäle Nordamerikas, hatte Szell eine spezielle Konzertmuschel für das Orchester auf dem Podium installieren lassen. Sie war so beschaffen, dass die Musiker einander selbst zwar schwer, Szell aber dafür jeden einzelnen seiner Untergebenen wie unter einem Vergrößerungsglas hören (und kontrollieren) konnte. Diese Muschel war das Erste, was nach Szells Tod 1970 abmontiert wurde.
Muss man das alles heute noch erzählen? Ja, man muss. Denn das Cleveland Orchestra hat auch unter seinem heutigen Chefdirigenten Franz Welser-Möst sein Klangprofil kaum geändert. Warum nicht? Nun, zwar ist Welser-Möst hier auch schon fast 20 Jahre im Amt. Eine eigene Ästhetik hatte er dem Vorgänger ebenso wenig entgegenzusetzen wie der zwischenzeitlich wirkende Lorin Maazel. Wozu auch. Man höre die sagenhaften 106 CDs der Szell-Edition, die bei Sony vor drei Jahren veröffentlicht wurden (und ratzfatz ausverkauft waren). Die mit dem Zeigestock dirigierten, scheinbar die schlechte Laune der Musiker provozierenden Aufnahmen sprühen in Wirklichkeit vor Temperament und guter Laune. Szell war ein väterlicher Dirigent. Er habe fürsorglich zu seinen Musikern gestanden, berichten Orchestermitglieder von einst. Man wollte gut spielen für ihn.

Vorstoß in die russische ­Moderne

Als seien die Akten über dem Orchester geschlossen, hielt sich Welser-Möst mit eigenen Aufnahmen bis heute mehr als zurück. Es gibt fast gar nichts. (Ausnahmen: ein bisschen Schubert, Beethoven, Varèse und Staud). Das lässt den jetzigen Vorstoß mit zwei Live-Aufnahmen umso sensationeller anmuten. Mitgeschnitten 2020 in Cleveland sowie bei der regulären Residency des Orchesters in Miami, arbeitet man erneut wie ‚auf Szell-Lücke‘. Bei Prokofjew legte der große Vorgänger puristische Enthaltung an den Tag (mit alleiniger Ausnahme der 5. Sinfonie und der „Lieutenant Kijé“-Suite). Alfred Schnittke aber war für ihn zu jung.
Welser-Möst findet in Schnittkes neoklassischem Konzert für Klavier und Streicher sofort ein ideales Betätigungsfeld. Mit Yefim Bronfman hat er einen Solisten mit unzweifelhafter Kennerschaft gewählt. (Auch ein großer Prokofjew-Spieler, nebenbei.) Es gibt grundsätzlich – außer einer älteren Aufnahme unter Gennadi Roschdestwenski – keine bessere Einspielung dieses Werkes aus der mittleren Phase Schnittkes (1964). Neben der immerhin 40 Jahre älteren 2. Sinfonie von Sergei Prokofjew findet es hier zwanglos seinen Platz. Man stellt fest, einen wie ähnlichen, ‚vergangenheitsbewussten’ Kurs beide Komponisten fuhren. Rhythmisch knackig. Zweckoptimistisch unbeirrt.
Natürlich vermochte es das Cleveland Orchestra immer schon, akribische Texttreue in logische Schlüssigkeit zu übersetzen. Besonders bei Werken, die bei anderen Orchestern unschlüssig zum Mäandern neigen. Wahrscheinlich hängt diese analytische Kraft auch mit dem Saal zusammen, in dem man probt und auftritt. Besagte Severance Hall, vom selben bürgerlichen Reichtum zeugend, dem Cleveland seinen fantastischen Theatre District verdankt, ist akustisch kein leicht zu bändigender Saal. Die besten Plätze: unterm Dach. Da muss man transparent spielen. Genau damit prunkt man hier.
Für Welser-Möst ist die Platte ein Neuaufbruch nach Jahren der Unauffälligkeit. Der 61-Jährige hat die Ära, in der man ihn in London seinerzeit als „Frankly Worse than Most“ verunglimpfte, souverän weggesteckt. Zwei Jahrzehnte in Cleveland haben sein Maß an Unerschütterlichkeit noch gesteigert. Der Überraschungserfolg seines Wiener Neujahrskonzertes 2011 war so groß, dass man ihn zwei Jahre später gleich wieder einlud. In Salzburg feiert er ohnehin regelmäßige Festivalerfolge. Welser-Möst wird immer besser werden – je mehr er die Reife jener Altmeisterschaft tatsächlich erreicht, die er seit frühen Jahren immer schon verströmt.

Neu erschienen:

Schnittke, Prokofjew

Konzert für Klavier und Streicher, Sinfonie Nr. 2

Bronfman, The Cleveland Orchestra, Welser-Möst

Cleveland/Note 1

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Robert Fraunholzer, 11.12.2021, RONDO Ausgabe 6 / 2021



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