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(c) David Goddard
Wenn man von einem Schweizer hört, der sich forschend mit Metronomzahlen beschäftigt hat, denkt man vielleicht an einen überkorrekt gescheitelten älteren Herrn mit Taschenuhr. Aber Bernhard Ruchti, der ins Studio seines Produzenten gekommen ist, ist ein ruhiger, aufgeschlossener und sehr fokussierter Musiker, alles andere als dogmatisch oder pedantisch.
Was ihn umtreibt, hat bereits Generationen von Pianisten vor Probleme gestellt: es geht um die nach wie vor unspielbar schnellen Tempo-Angaben, die Beethoven über seine Klaviersonaten gesetzt hat. Nach wie vor orientierten sich Musiker dieser Zeit vor allem an Satzart und Gehalt der Musik, die Bandbreite war groß. „Carl Czerny, Beethovens Schüler und späterer Pädagoge, beschreibt in seiner Klavierschule von 1839 zehn verschiedene Ausdruckskategorien, die ein als ‚Allegro‘ überschriebenes Musikstück vermitteln kann, von ‚ruhig, sanft und einschmeichelnd‘ bis ‚stürmisch schnell‘ und ‚sehr wild‘. Seine überlieferten Tempi bewegen sich nach heutigem Verständnis aber nur am oberen Ende der Skala“, fasst Ruchti zusammen. In der Praxis wird Musikstudenten geraten, die unspielbaren Angaben einfach zu ignorieren und so schnell als möglich zu spielen. Sie befeuerten die Vorstellung vom Über-Virtuosen Beethoven. Dabei war das von Johann Nepomuk Mälzel 1815 erfundene Metronom – mit seinem trockenen „klack-klack“ bis heute Horrorinstrument vieler Klavierschüler – erst seit kurzem auf dem Markt. Hat Beethoven, der sich für dessen Gebrauch sehr interessierte, also verguckt, verschrieben – geirrt?
Ruchti interessierte sich für einen anderen Lösungsansatz. Schon 1980 stellte ihn der Niederländer Willem Retze Talsma in seinem Buch „Die Wiedergeburt der Klassiker“ zur Diskussion – und wurde prompt von der Fachwelt verhöhnt. Doch im historischen Kontext scheint es nicht unmöglich, dass Musiker das Metronom anfangs auf zwei Arten lasen. Manche zählten jedes Klack, andere nur die volle Pendelbewegung, wie man es instinktiv auch bei einem auf- und niedergehenden Dirigentenarm täte. Mälzel selbst sah sich sechs Jahre später sogar genötigt, eine offizielle Art der Nutzung in einer Annonce im „Intelligenzblatt zur allgemeinen musikalischen Zeitung“ zu erklären. Er wende sich gegen die alltäglich beobachtete Lesart „wie eine Schwarzwälder Uhr“ und beschreibt die Zählung jedes Schlages als Konvention. Später gab es sogar Metronome mit zwei unterschiedlichen Skalen, für die Zählung pro Schlag oder Doppelschlag.
Ist damit das ganze Problem gelöst? Nicht ganz, denn nun erscheinen andere Tempi extrem langsam. „Zu den Musikern, die sich damals insgeheim mit Talsmas Thesen weiterbeschäftigt haben, gehörte auch Johann Sonnleitner, der Cembalist von Nikolaus Harnoncourt“, sagt Ruchti. „Seiner Theorie, nach muss man sich das Verhältnis ansehen, in dem Taktart und Tempobeschreibung zueinander stehen.“ Sonnleitner geht davon aus, dass nur das Tempo für Notenwerte, die größer als die Schlageinheit des Taktes sind (die Viertel im Dreivierteltakt also), als Doppelschlag zu lesen sind.
Auf dieser Basis sah Bernhard Ruchti nun Czernys Tempoangaben zu Beethovens Sonaten neu durch, und oh Wunder! – sie deckten sich viel besser mit den Charakteristika, die Czerny beschrieben hatte. Es folgt die Hörprobe aufs Exempel mit einem echten Klassiker: Doch zugegeben, schon der Beginn der F-Dur-Sonate op. 2/I lässt innerlich Aufbegehren. Kein aufbrausender Anlauf mehr, sondern ausbuchstabiertes Leiternsteigen? Doch je länger man sich auf Ruchtis Interpretation einlässt, umso mehr öffnet sich der Blick auf bislang wenig beachtete Details. Der Prestissimo-Schlusssatz, sonst ein Furioso unbestimmbaren Rauschens, wird hier zu einem marcato gespielten Fagott, über dem krachend Orchesterblitze einschlagen. Binnen kurzem hat man sich auf das neue Tempo eingehört. Und auch der musikalische Fokus verschiebt sich, so lange man bereit ist, die eigene Hörbiografie probehalber hintan zu stellen.
Fünf Folgen umfasst das „A-Tempo-Projekt“ inzwischen, zu jeder gibt es Erläuterungsvideos auf YouTube. „Da musste ich mich dran gewöhnen, aber die Zuhörenden sollten möglichst nahe an ein Live-Erlebnis kommen, die Erfahrung in meinen Konzerten ist so stark, dass ich erkannt habe, das lebt im Moment.“ Natürlich gibt es auch Indizien, die gegen die Theorie sprechen. Zum Beispiel die ununterbrochene Tradition der Beethoven-Interpretation bis heute. Wann hätte der Umschwung im Tempo unbemerkt stattfinden sollen? „Das ist tatsächlich das Hauptargument, das gegen all diese Theorien spricht, das muss man auch zugeben“, sagt Ruchti. Und schiebt nach: „Wir haben das Beispiel der ‚Hammerklaviersonate‘ op. 106, die in Wien mit der Halben = 138 herauskam, und unmittelbar danach in London, von Ferdinand Ries ediert, mit der Viertel = 138, also dem halben Tempo. Ignaz Moscheles kommentierte später übrigens, er finde beide Tempi falsch.“
Opus 106 dauert nach Tempoangabe gespielt 33 Minuten. Franz Liszt schrieb in einem Brief hingegen, er habe dafür „fast eine Stunde“ gebraucht. Das deckt sich nach Sonnleitners und Ruchtis Kalkulation eben doch ziemlich genau mit dem Tempo nach der Doppelschlagtheorie.
Doch der Schweizer Pianist möchte weder belehren noch bekehren. „Mein Fokus hat sich wegbewegt von den Metronomangaben, in der zweiten Staffel des Projekts geht es mehr um solche überlieferten Spieldauern.“ Chopins Etüden und Schumanns Fantasie op. 17 haben ihn bereits beschäftigt. „Auch bei Schumann gibt es Kontroversen, Hans von Bülow vermutete, Schumanns Metronom sei kaputt gewesen. Den zweiten Satz der Fantasie beschreibt Clara als ‚erhaben‘, das wird nun sinnfällig. Mitten im ersten Satz wechselt Schumann im Autograf plötzlich zum grave, also ‚schwer‘! Das kann man gar nicht spielen, wenn man vorher zu schnell war!“
Schon zwei Folgen drehen sich um Franz Liszt, der über seinen Lehrer Carl Czerny direkt mit Beethoven verbunden war. „Bei Liszts Orgelfantasie über ‚Ad nos, ad salutarem undam‘ steht man auf ganz sicherem Boden.“ Gleich mehrere Zeitzeugen, darunter Camille Saint-Saëns, berichten unabhängig voneinander, die Uraufführung unter Liszt im Merseburger Dom habe eine dreiviertel Stunde gedauert – die meisten Interpreten heute brauchen zwischen 22 und 27 Minuten.
Für manche Musiker hat das auch Nachteile: Wenn man durch Klavierwerke nicht brillant durchrauschen kann, muss man das musikalische Geschehen viel intensiver gestalten. Zum Glück gibt es im Spaziergangtempo eine Menge zu entdecken. „Diese unglaublichen Details und Schattierungen im Klang, die Schumann in seiner Fantasie macht, das hat mich richtig glücklich gemacht. Ganz krass war es bei Chopins Étuden, das ist vielleicht die kontroverseste Platte. Aber die Art des Herangehens an Musik, das Auskosten von Klangfarben und -schattierungen, das ist der Kern für mich inzwischen.“
www.bernhardruchti.com
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