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(c) Nikolaj Lund
Kaum ein Geiger dürfte sein Berufsbild derart facettenreich angelegt haben wie Fedor Rudin. Bis vor Kurzem war er Konzertmeister des Wiener Staatsopernorchesters und der Wiener Philharmoniker, fasste dann aber den Entschluss, sich ganz auf seine Solistenkarriere zu konzentrieren. Daneben ist er als Kammermusiker in unterschiedlichsten Besetzungen und mit verschiedenstem Repertoire zu hören. Dass ihm die Musik in den Genen liegt, lässt bereits der Titel seines neuesten Albums erahnen: „Heritage“, also „Erbe“, das Rudin gemeinsam mit dem Pianisten Boris Kusnezow aufgenommen hat. Es erzählt sowohl eine Familien- als auch ein Stück Musikgeschichte, indem es das Werk des zwar berühmten, dennoch – auch aufgrund seines vorzeitigen Todes – immer etwas unter dem Radar laufenden Komponisten Edisson Denissow (1929-1996) in den Fokus nimmt. Denissow gehörte nicht nur zu den wenigen Musikschaffenden, die zu Sowjetzeiten offen zu ihrer Beeinflussung durch die westliche Avantgarde standen. Er war auch Fedor Rudins Großvater.
„Persönliche Erinnerungen an ihn habe ich kaum“, sagt Rudin, der bei Denissows Tod (er starb an den Spätfolgen eines Autounfalls), gerade einmal vier Jahre alt war. „Durch seine Offenheit und seine Geradlinigkeit, mit der er zu sich selbst stand, hat er mich musikalisch aber durchaus geprägt.“ Als Geiger begann er sich mit den Werken zu beschäftigen, die sein Großvater für dieses Instrument komponiert hatte. Eines davon ist die serialistisch beeinflusste, rhythmisch außerordentlich prägnante Violinsonate von 1963, die ein knappes Jahrzehnt später von Gidon Kremer und Oleg Maisenberg in Moskau uraufgeführt wurde. Eingebettet ist sie in ein Programm mit Werken von Komponisten, denen sich Denissow Zeit seines Lebens verbunden fühlte, darunter das apokryphe, 1945 entstandene Fragment einer g-Moll-Sonate von Dmitri Schostakowitsch, bei dem Denissow zeitweise studierte. Dennoch: „Hätte ich alle Lieblingskomponisten meines Großvaters berücksichtigt, hätte eine CD nicht ausgereicht.“
Die interessantesten Preziosen des Albums stammen ohnehin aus dem Archiv von Edisson Denissow selbst, dessen „Drei Konzertstücke“ noch zu Moskauer Studienzeiten entstanden und möglichweise nie zuvor öffentlich zu hören waren. „Als die Aufnahme im Juli entstand, lagen uns nur die ersten beiden Stücke vor“, berichtet Rudin, „kurz darauf tauchte dann durch Zufall das Manuskript des dritten auf, das wir nachträglich noch einspielen konnten.“ Noch rätselhafter ist die Entstehungsgeschichte der zweisätzigen Sonatine, deren Autograf noch nicht einmal einen Titel trägt. „Auf dem Notenblatt war nur die Jahreszahl 1972 vermerkt“, erinnert sich Fedor Rudin. Seine diskografische Pionierarbeit soll nicht zuletzt dazu beitragen, das Schaffen von Edisson Denissow wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zurückzubringen. Auf dieses Ziel möchte er künftig übrigens nicht nur als Geiger, sondern auch als Dirigent hinarbeiten – eine weitere Profession dieses vielseitigen Musikers.
Orchid Classics/Naxos
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