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N° 1354
20. - 29.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



Startseite · Interview · Blind gehört

(c) Jakub Fulín/National Theatre in Prague

Blind gehört

Karl-Heinz Steffens: „Wenn ich das war, bin ich enttäuscht von mir“

Karl-Heinz Steffens, geboren 1961 in Trier, ist Musikdirektor der Staatsoper Prag und einer der wichtigsten deutschen Klarinettisten. Bis 2007 war er Solist der Berliner Philharmoniker, dann ging er als Generalmusikdirektor nach Halle, anschließend an die Nationaloper in Oslo. Einen ECHO Klassik erhielt Steffens 2015 für die Orchesterwerke von Bernd Alois Zimmermann (mit der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz). Er ist verheiratet mit Michal Friedländer, der Tochter des Historikers Saul Friedländer. Er lebt in Berlin und Prag.

Das Stück erkenne ich, ehrlich gesagt, nicht. Ich würde es aber in Tschechien, genauer: in Böhmen verorten. In meiner neuen Wahlheimat. – Smetana? Dann handelt es sich um „Libuše“, ein sehr zentrales Werk des böhmisch-mährischen Repertoires. Die Kollegen vom Nationaltheater haben es kürzlich neu inszeniert. Ich als deutscher Dirigent lasse besser die Finger davon. Ich wurde an die Prager Staatsoper geholt, um gerade nicht tschechische Opern zu dirigieren. Sondern Verdi, Wagner und Puccini. Man wollte das Haus stärker internationalisieren, auch um das Profil der Häuser besser voneinander abzusetzen. Tschechisches Repertoire kommt bei uns ‚oben‘ etwas weniger oft vor als ‚unten an der Moldau’. Also im alten, traditionsreichen Nationaltheater.

Smetana

Libuše (Prague National Theatre Orchestra, Ltg. Krombholc; 1965)

Supraphon/Note 1

Das ist „Rusalka“ von Antonín Dvořák. Und das könnte die amerikanische Sopranistin Renée Fleming sein. Eine tolle Sängerin. Mein Tschechisch reicht nicht aus, um festzustellen, wie gut sie ihre sprachliche Lektion gelernt hat. Ich weiß aber, wie genau, fast pingelig genau man es mit dem Tschechischen nimmt, und das ist vielleicht auch ganz richtig so. Da wird gern mal ein böhmischer Sänger für seine Aussprache des Mährischen geziehen – und umgekehrt. Prag ist auch heute noch, 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, eine Stadt, in der ich nicht leicht mit Englisch durchkomme. Gottlob bin ich während der Proben kein großer Märchenerzähler. Ich kenne fast alle Dirigenten früherer Jahre durch meine Zeit bei den Berliner Philharmonikern. Derjenige, der am wenigsten sprach – eigentlich gar nicht – war Claudio Abbado. Weit mehr sprach Carlos Kleiber – aber immer nur metaphorisch. Hinreißend! Ich weiß, dass Orchestermusiker sofort abschalten, wenn Dirigenten zu viel plaudern. In meiner Zeit in München wurde der redselige Václav Neumann, ein sehr guter Dirigent, tatsächlich „Quatschlav“ Neumann genannt. Musiker können grausam sein.

Dvořák

„Lied an den Mond“ (aus: Rusalka) (Fleming, London Symphony Orchestra, Ltg. Solti; 1996)

Decca/Universal

„Jenůfa“ von Janáček habe ich leider nie dirigiert. Die Musik ist schön gemeint, und genau so wird sie hier, vermutlich in der klassischen Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern, auch gespielt. Sogar zu weich? In Tschechien sagt man, dass man das Idiom nur dann treffen kann, wenn man ‚von der Sprache her‘ musiziert. In deren Rhythmus also und mit den Farben, welche die Sprache hergibt. Die Tschechen sind äußerst kulturbewusst in Bezug auf ihre eigenen Künstler. Es hat damit zu tun, dass man jahrhundertelang immer wieder politisch dominiert und fremdbestimmt wurde; mal von den Habsburgern, mal von den Deutschen, dann wieder von den Russen. Ich habe in England angefangen, Dvořák zu dirigieren. Viel mehr, als ich es jetzt in Prag tue.

Janáček

Jenůfa (Wiener Philharmoniker, Ltg. Mackerras; 1983)

Decca/Universal

Ist das Bohuslav Martinů? Er hat bei uns nach wie vor einen sehr guten, zugkräftigen Ruf. Als ‚einer von uns‘. Tschechisches Repertoire soll auf eine Weise gespielt werden, so wird gesagt, dass die eigene Identität nicht angetastet oder gar zerstört wird. Ich finde das auch nicht falsch. Brahms soll wie Brahms klingen, aber er muss deswegen durchaus nicht überall auf der Welt gleich klingen. Tradition, die von Mahler als Vorwand für Schlamperei gegeißelt wurde, ist eine schöne, bisweilen auch ein bisschen schreckliche Sache. Aber nur dann, wenn es zur Überbetonung der nationalen Eigentümlichkeiten führt.

Martinů

Sinfonie Nr. 5 (RSO Wien, Ltg. Meister; 2017)

Capriccio/Naxos

Das ist doch nicht etwa der großartige Václav Talich?! Den verehre ich. Ein Heiliger in seinem Reich. Erstaunlich, wie zart das klingt und welchen Zug der Dirigent trotzdem in die Sache kriegt. Es waren andere Zeiten. Ich habe die alten Burschen ja noch kennengelernt. Wenn bei Rafael Kubelik in München jemand ‚mit halbem Bogen‘ zu spielen wagte, ging er handgreiflich auf ihn los. Von Toscanini gibt es den Ausruf: „Wenn ich im Grab liegen werde, habe ich noch immer mehr Energie als Ihr!“ Die großen Alten zu kopieren, geht trotzdem nicht. Ich erinnere mich sehr gut an einen betagten Geiger in Halle. „Herr Steffens“, sagte er mir, „Sie müssen immer bedenken, dass Sie nicht Furtwängler sind“. Das sitzt bis heute.

Dvořák

Konzertouvertüre „In der Natur“ (Tschechische Philharmonie, Ltg. Talich; 1948)

Supraphon/Note 1

Ich glaube, ich habe das Stück dreißig Jahre lang nicht gehört. Meine Aufnahme ist das nicht. Es handelt sich um einen deutschen Klarinettisten mit sehr traditionellem, deutschem Ton. Das bedeutet: mit sehr gut zentrierter Mitte – und einem charakteristischen Silberglanz obendrüber. So bin ich aufgewachsen. Heute gibt es einen solchen Ton überhaupt nicht mehr. Ich selber würde mir wohl auch mehr Geschmeidigkeit wünschen: mehr Watte um den Kern. Heute klingen alle Klarinettisten viel französischer – außer den Franzosen. Die klingen deutscher ... Dermaßen ‚gerade‘ wie dieser Solist will niemand mehr spielen. Alle klingen schlanker, ‚schreien‘ obenrum mehr und werden sehr hell. Was zu modernem Repertoire auch besser passt. Im Leisen wird’s dafür dann leicht muffig ... Die Zeit der großen Identifikationsfiguren wie etwa Karl Leister ist vorbei. Und wer ist das nun ...? – Was, Leister selber?! Das hatte ich anders in Erinnerung. Es muss die frühere Aufnahme mit dem Amadeus Quartett sein. Er war mein Vorbild. Nein, er war unser aller Vorbild.

Brahms

Klarinettenquintett (Leister, Amadeus Quartett; 1967)

DG/Universal

Das ist Stella! Also wird es wohl unsere Aufnahme sein. Dies französisch Keusche, Knabenhafte, dabei sehr Sinnliche traf sie wie niemand sonst. Stella Doufexis besaß ein untrügliches Gehör und Stilempfinden. Die Aufnahme entstand kurz vor ihrer Erkrankung. In Ludwigshafen war es meine erste Stelle bei einem Sinfonieorchester. Ich war zum Dirigieren gewechselt nicht zuletzt wegen Daniel Barenboim. Als ich mit Barenboims Ehefrau, Elena Bashkirova, einmal Kammermusik machte, zeigte ich ihr eine DVD, bei der ich in Italien dirigiert hatte. Drei Tage später rief Barenboim an – obwohl ich genau das hatte verhindern wollen. „Wenn Sie Klarinettist sind, wird Sie niemand als Dirigent ernstnehmen“, sagte er mir. Und lud mich an die Berliner Staatsoper ein, um ihm zu assistieren.

Berlioz

„Les nuits d’été“ (Doufexis, Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, Ltg. Steffens; 2011)

Berlin Classics/Edel

Dies ist – für mich als Dirigent – das schwerste Stück überhaupt. Es suggeriert Zeitlosigkeit. Leider ist das Werk aber so kompliziert geschrieben, dass man als Dirigent genötigt wird, es durch klare Zeichengebung zu ‚zerstückeln‘. Es klingt sehr gut hier. Ist der Oboist vielleicht mein früherer Kollege bei den Berliner Philharmonikern, Lothar Koch? – Nein, „aber derselbe Stuhl“?! Moment mal, jetzt kommt gleich die Klarinette. (Hört, und zuckt die Achseln.) Wenn ich das war, bin ich enttäuscht von mir. Aber bin ich es? Mein Kollege Wenzel Fuchs und ich waren gleichberechtigt. Verdient haben alle. Ich kriege noch heute etwa 312,37 Euro pro Jahr aufs Konto. Ich spiele übrigens sogar noch Klarinette. Meine Frau und ich planen ein kleines Kammermusik-Festival in der Mendelssohn-Remise in Berlin-Mitte. Jedenfalls ganz klar, dass dies hier die Aufnahme unter Simon Rattle sein muss. Ich kann mich überhaupt nicht an sie erinnern.

Debussy

„Prélude à l’après-midi d’un faune“ (Berliner Philharmoniker, Ltg. Rattle; 2004)

Warner

Robert Fraunholzer, 18.09.2021, RONDO Ausgabe 4 / 2021



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