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(c) Anna Maggý Grímsdóttir

New Repertoire

Befreit vom Schubladendenken

Die Deutsche Grammophon entwickelt im Segment „New Repertoire“ eine Plattform für neue Komponisten und Interpreten jenseits der traditionellen Klassik.

Schubladen machen das Denken bequem. Sei es bei der Vermarktung von Stars, die als ausgewiesene Spezialisten erfolgreich ihre Repertoire-Nischen bedienen. Oder manchmal auch einfach nur, um sich liebgewonnene Klischees und Vorurteile selbst zu bestätigen. Die interessantesten Künstlerpersönlichkeiten sind aber wohl trotzdem meist gerade diejenigen, die sich eben nicht in gewohnte Raster pressen lassen und bei ihren musikalischen Entdeckungsreisen auch hin und wieder mal bewusst Grenzen überschreiten. Dies gilt ebenfalls für jene Gruppe von Komponistinnen und Komponisten, die in den letzten Jahren gerne unter dem diffusen Sammelbegriff „Neo-Klassik“ eingeordnet wurden: Namen wie Max Richter, Ludovico Einaudi, Dustin O’Halloran, Peter Gregson, Agnes Obel, Joep Beving, Balmorhea, Jóhann Jóhannsson oder Oscarpreisträgerin Hildur Guðnadóttir. Mit ihren unterschiedlichen musikalischen Prägungen bilden sie eine überaus diverse Mischung, die sich weniger durch stilistische Verwandtschaften definiert, sondern vielmehr durch die Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Diese haben ihre Wurzeln zwar oft bei klassischen Vorbildern, werden aber ebenso aus Genres wie dem Jazz, Elektro oder Indie inspiriert und scheuen sich nicht davor, in harmonischen Melodien zu schwelgen. Christian Badzura, Vice President A&R New Repertoire Deutschen Grammophon, spricht bei diesem Segment daher lieber von „neuem oder unique Repertoire“. Denn obwohl viele der erwähnten Künstlerinnen und Künstler eine klassische Ausbildung mitbringen, Pflicht ist dies nicht, um in den Katalog des Traditionslabels aufgenommen zu werden. Wichtig ist vor allem eine unverwechselbare Klangsprache, wie Badzura sie etwa beim niederländischen Pianisten Joep Beving wahrnimmt, auf dessen Musik er zufällig in einer Kneipe in Berlin Kreuzberg aufmerksam wurde. „Seine Stücke sind sehr auf das Wesentliche reduziert und erinnern dabei manchmal an Chopin oder Satie, die teilweise mit ähnlichen Mitteln gearbeitet haben.“ Solche zufälligen Entdeckungen sind natürlich selbst im „New Repertoire“ eher die Ausnahme. „Unsere Musik tummelt sich auch und vor allem in der digitalen Welt.“ Viele der unter Vertrag genommenen Künstlerinnen und Künstler hatten schon vorher die Möglichkeiten neuer Medien entdeckt und sich auf Spotify, Instagram, YouTube oder Soundcloud ein eigenes Profil geschaffen. Und genau dort versucht auch die DG das Zielpublikum abzuholen. Nanja Oedi, Head of Marketing New Repertoire, erklärt, die Zukunft liegt längst nicht allein im digitalen Bereich. „Unsere Strategie geht zunehmend in Richtung Streaming, gepaart mit Vinyl. Natürlich gibt es weiterhin CDs, aber eine Platte hat bei Fans einen ganz eigenen Stellenwert. Das beginnt schon beim Artwork, das in der digitalen Welt meist verloren geht.“ Für Oedi zeigt diese Kombination sehr schön, wie man zwei Bedürfnisse auf einmal befriedigt. Musik schnell verfügbar und gut portioniert für unterwegs. Aber für die audiophilen Fans ebenso das genussvoll zelebrierte Klangerlebnis vor dem Plattenspieler. „Wobei wir auch bei einzeln veröffentlichten Tracks immer zum gesamten Album verlinken.“ Die kleinen Häppchen, die der Zielgruppe in den sozialen Medien oder auf thematisch abgestimmten Playlists begegnen sind so oft nur ein erster Vorgeschmack. Denn selbst, wenn die Zeit schnelllebiger geworden ist, gibt es im „New Repertoire“ immer noch viele, die im großen Format denken. Gerade hier sieht Oedi auch die Abgrenzung zu Crossover-Projekten, mit denen sich etablierte Klassik-Stars hin und wieder bei einem breiteren Publikum einschmeicheln. „Ob wir es im Gegenzug schaffen, dass auch die Wagnerianer zu uns überlaufen, kann und will ich nicht sagen. Dafür sind die Medien, auf denen unsere Musik überwiegend stattfindet, noch zu jung. Aber wir nehmen die Herausforderung gerne an.“

Goldgräber des Zukünftigen

Hin und wieder gibt es natürlich auch jene Künstler, die sehr authentisch in beiden Welten ein festes Standbein haben. Etwa den Shooting-Star Víkingur Ólafsson, der mit seinen Bach-Interpretationen ebenso die Charts stürmte wie mit dem Album „Reflections“, das Debussy und Rameau in Bearbeitungen präsentiert und unter anderem mit Musik von Singer-Songwriter Helgi Jónsson kombiniert. Neben seiner bemerkenswerten Kreativität und Repertoire-Offenheit besitzt Vikingur eine große Leidenschaft für den Aufnahme Prozess, sowohl für den eher „klassisch“ abgebildeten Klang als auch den stärker nachproduzierten Sound im Studio. Ein Schubladendenken wäre für die Kreativität sehr hinderlich. Wobei sich die Neudeutung nicht allein in Arrangements abspielt, sondern auch im Tonstudio fortsetzt, wie Christian Badzura hervorhebt. „Viele unserer Künstler besitzen eigene kleine Studios und produzieren selbst. Das sind echte Virtuosen in der Schichtung und Kombination von Klängen. Joep Bevings Album ‚Henosis‘ ist da ein sehr gutes Beispiel. Es bedient mit großem Streichorchester sowohl den klassischen Klangkörper, arbeitet aber ebenso mit gut 80 Layern von Synthesizern, wie man das aus Ambientund Krautrock-Zeiten kennt.“ Ein weiterer dieser Klangbastler ist der Oscar-nominierte Dustin O’Halloran, der im Juni mit „Silfur“ sein Debüt bei der DG präsentiert, das die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seines kompositorischen Schaffens beleuchtet. „Ich versuche immer sehr offen ins Studio zu gehen und nichts zu erzwingen. Als wir uns überlegt haben, was wir aufs Album nehmen, wollte ich bei den älteren Stücken nicht einfach etwas dazu packen, nur weil ich es jetzt kann. Es gibt einige Klavierstücke, die in ihrer Einfachheit perfekt funktionieren. Bei ‚Opus 17‘ hat das Streichquartett-Arrangement dagegen noch einmal eine ganz neue Perspektive eröffnet.“ Den Begriff der „Neo-Klassik“ sieht O’Halloran trotzdem eher entspannt. „Die Menschen brauchen eben manchmal solche Schubladen. Darüber versuche ich nicht nachzudenken.“ Die Stärke des „New Repertoire“-Segments liegt für den Amerikaner vor allem in der künstlerischen Bandbreite. Eine Einstellung, die er mit Ólafsson oder Hildur Guðnadóttir teilt, mit denen er sich in seiner Wahlheimat Island regelmäßig austauscht. „Hildur ist ein wunderbares Beispiel. Denn wir haben ja nicht nur diese lange klassische Tradition, sondern auch hundert Jahre Kino. Die Filmmusik hat viele Ausdrucksmittel aus der Oper oder Sinfonik übernommen und weiterentwickelt.“ Warum also nicht einmal in die Gegenrichtung? Frei nach dem Motto: je mehr Inspirationsquellen, umso lebendiger die Musik. „Ich bin von vielen Genres beeinflusst und mache einfach das, was mich interessiert. Um ganz ehrlich zu sein … als ich meine erste Band hatte, hätte ich nie gedacht, dass ich einmal bei einem so renommierten Klassik-Label landen würde. Ich glaube aber auch ihnen macht es Spaß, zur Abwechslung einmal mit lebenden Komponisten zu arbeiten.“

Neu erschienen:

„Silfur“

mit O’Halloran, Siggi String Quartet

DG/Universal

Als JPC- und Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen.

Zuletzt erschienen:

Debussy, Rameau

„Reflections“

mit Víkingur Ólafsson

DG/Universal

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„Henosis“

mit Joep Beving

DG/Universal

Als JPC- und Amazon-Partner verdienen wir an qualifizierten Verkäufen.

Oscarreif

Grenzgänge zwischen Konzertsaal und Kinoleinwand gibt es nicht erst seit dem Oscar 2019 für Hildur Guðnadóttir oder den Nominierungen ihrer DG-Kollegen Dustin O’Halloran und Jóhann Jóhannsson. Schon Erich Wolfgang Korngold, den man vor seiner Emigration in den europäischen Musikmetropolen als Wunderkind gefeiert hatte, wurde für seine opulenten Soundtracks gleich mit zwei goldenen Statuen ausgezeichnet. Oder Nino Rota, der parallel zum Oscar-gekrönten „Der Pate II“ an seiner zehnten Oper schrieb. Womit beide zumindest in dieser Hinsicht Dmitri Schostakowitsch übertrumpfen, der sich bei seiner einzigen Nominierung 1961 der „West Side Story“ geschlagen geben musste.

Tobias Hell, 18.09.2021, RONDO Ausgabe 3 / 2021



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