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N° 1354
20. - 28.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Javier del Real

Musikstadt

Madrid

Nach der Movida kam die Klassik: Madrid hat sich längst zur Klassikmetropole gewandelt – und trotzte klingend sogar Corona.

In ganz Europa sind die Theater und Konzertsäle geschlossen, aber in Madrid wird trotz Pandemie gespielt. Nur sind die Schlangen vor dem Teatro Real, wo man auch für gewöhnlich beim Einlass Metalldetektoren passieren muss, länger als sonst. Es wird Fieber gemessen, alles streng nachverfolgt, doch für mehr als die Hälfte der sonst üblichen Zuschauer geht der Vorhang hoch. Allein im Winterhalbjahr 2020/21 gab es Neuproduktionen von Antonín Dvořáks „Rusalka“, Vincenzo Bellinis „Norma“ und Benjamin Brittens „Peter Grimes“. Und vor der Oper, auf der Plaza Oriente gegenüber dem Königspalast, herrscht das üblich wuselige Treiben. Gleich nebenan ist die Terrasse des feinen Café Oriente gefüllt, auch in den kleinen Cervesa-Bars in den Seitenstraßen tobt das Leben. Möglich gemacht hat das der politische Antagonismus einer rechten Regionalregierung versus der linken Staatsführung. Da wurden alle Möglichkeiten ausgereizt, die spanische Hauptstadt, die sowieso kein Kind von Traurigkeit ist, auch während der Pandemie als schillernden Hotspot glimmern zu lassen. Das ist gut für die Wirtschaft, für die Touristik – und auch für das Kulturleben. Und das, obwohl Spanien lange kein sonderlich enthusiastisches Land der Klassik war, das hat sich in den letzten Jahrzehnten freilich geändert. Überall in den Regionen wurden neue, teils sehr gute Konzerthallen gebaut, und auch in der Metropole blüht die Klassik wie noch nie. In den vielen, oft architektonisch wagemutigen Kulturstiftungen von Banken und Versicherungen gibt es sorgsam kuratierte Kammermusikreihen. Aber nach wie vor konzentrieren sich die Höhepunkte der Oper, der Operette und der Konzerte auf das Teatro Real, das Teatro de Zarzuela und das Auditorio Nacional de Música. In Madrid sitzt natürlich auch die wichtigste spanische Konzertagentur Iberomusica, ein bedeutender Spieler im internationalen Konzertgeschäft, das hoffentlich bald wieder hochfahren wird. Spanien, das Land, wo mit „Die Hochzeit des Figaro“, „Don Giovanni“, „Der Barbier von Sevilla“ und „Carmen“ einige der populärsten Opern angesiedelt sind, wo man aber im 19. Jahrhundert nur mit italienischen Libretti Erfolg haben konnte, betrat nach dem Siegeszug der spezifischen Operettenform der Zarzuelas erst mit Manuel de Falla, Enrique Granados und Isaac Albeniz im 20. Jahrhundert selbstständig die Musiktheaterbühne. Das Teatro Real wurde bereits 1850 in Anwesenheit von Königin Isabella II. eröffnet, schon 1925 musste es wegen Baufälligkeit geschlossen werden. 1966 wurde es als Konzertsaal reanimiert, seit 1997 spielt man wieder Oper und versucht, an alte Glanzzeiten anzuknüpfen. Auf den 1748 Sitzplätzen, von wo sich als Residenzklangkörper das Orquesta Sinfónica de Madrid vernehmen lässt, sitzt ein oft als unwirsch gefürchtetes Publikum. Die Oper ist den Madrilenen vor allem Bühne der Selbstdarstellung des in Pelzen und Juwelen manifesten Wirtschaftswachstums. Kein Wunder, dass hier selbst die Aufzüge nach Königen benannt sind. Es gibt prachtvoll plüschige Salons und ein teures, auch von außen zu betretendes Restaurant. Lange wurde hier nur eingekaufte Repertoireware mit den Goldkehlen der Welt präsentiert, aber spätestens seit Intendantengenie Gerard Mortier am Real seine letzten drei Lebensjahre bis 2014 verbrachte, ist man mutiger und diverser. Sein Nachfolger Joan Matabosch, der vorher die Konkurrenzbühne leitete, das Teatre del Liceu in Barcelona, fährt gemeinsam mit seinem Musikchef Ivor Bolton einen klugen Kurs zwischen Kulinarik und Avantgarde – obwohl er stramm sparen muss.

Zeit mit Freunden

Neuerstarkt ist in Spanien auch die Liebe zur Operettenform der Zarzuela. Das unterhaltende, dem Volk aufs Maul schauende Musiktheater mit Musiknummern und vielen, frechen Dialogen wurde bereits Ende des 17. Jahrhunderts gerne im Zarzuela Palast in der Nähe von Madrid gegeben, noch heute die Privatresidenz der spanischen Könige. Und da dieser nach den Brombeerbüschen benannt wurde, die ihn umgaben, erhielt gleich das ganze Genre seine wohlklingende Bezeichnung. Erbaut wurde das ebenfalls schön plüschige Teatro de Zarzuela hinter dem spanischen Parlamentsgebäude 1856. Der heute so behaglich abgewohnte Innenraum mit seinem gemütlich nachgedunkelten Rotgold-Hufeisen in drei Rängen ist diverse Male abgebrannt und umgebaut worden. Und obwohl hier während seiner langen Renovierungsjahre auch das Teatro Real untergebracht war, man sich quasi den Spielplan teilen musste, ist es ein Haus der kleinen Leute geblieben. Man macht sich hier nicht so fein wie bei der Schwester an der Plaza de Oriente, man kennt einander, will unbeschwerte Stunden verleben. Hier gibt es auch eine traditionsreiche und renommierte Lied- wie Rezitalreihe der berühmtesten Sänger der Welt. Viele der Zarzuela-Premieren der jüngsten Zeit sind sogar auf dem hauseigenen YouTube-Kanal gesammelt, da kann man erstaunliche Entdeckungen machen. Ein wenig im hauptstädtischen Abseits einer gesichtslosen Wohngegend liegt hingegen das 1988 eröffnete, ziegelsteinnüchterne Auditorio Nacional de Música, wo auch das Orchestra Nacional de España, der nationale Chor und das nationale Jugendorchester ihre Heimstatt haben. Seine zwei Säle, einen für Sinfonie- und einer für Kammermusik haben 2324 und 692 Plätze. Und trotzdem: Auch hier bekommt die Klassik Flügel.

teatroreal.es
teatrodelazarzuela.mcu.es
auditorionacional.mcu.es

Die Zarzuela

Von Madrid aus blühte das Genre weiter, wurde im späten 19. Jahrhundert immens populär und erlebte, auch wegen der aufkommenden Massenmedien, seine größte Blüte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als ganz Mittelund Südamerika, aber eben auch das Mutterland die Melodien von Amadeo Vives, José Serrano, Manuel Penella oder dem erst 1982 gestorbenen Federico Moreno Torroba und dem ihm vier Jahre später folgenden Pablo Sorozábal hörte und sang. Diese schon hatten die Stoffe aus dem Volksleben Madrids und seinen Bräuchen gelöst, sich modernen Themen und fremden Ländern zugewandt. Aber natürlich lebten die alten Zarzuela-Schlager weiter, und auch die großen spanischen Opernsänger haben alle Zarzuela-Platten aufgenommen.

Matthias Siehler, 05.06.2021, RONDO Ausgabe 3 / 2021



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