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N° 1354
20. - 29.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Public Domain/Library of Congress/George Grantham Bain Collection

Igor Strawinski

Igor der Große

Am 6. April 1971 und damit vor genau 50 Jahren starb mit Igor Strawinski eine der Ikonen der Moderne. In neuer Frische präsentiert sich seine Musik zu diesem Anlass auf einigen CD-Boxen.

Als Igor Strawinski im Mai 1952 nach Paris zurückkehrte, muss es ihm für wenige Momente wieder heftig in den Ohren geklingelt haben. Denn fast 40 Jahre zuvor hatte er im Théâtre des Champs-Élysées mit seiner Ballettmusik „Le Sacre du Printemps“ einen der größten Skandale der Musikgeschichte ausgelöst. Jetzt aber gehörte Strawinski zu den Ehrengästen des Musikfestivals „Meisterwerke des XX. Jahrhunderts“, das im altvertrauten Konzertsaal in der Avenue Montaigne stattfand. Die Aufführung seines „Frühlingsopfers“ ging ungestört über die Bühne. Bei seinem Opern-Oratorium „Oedipus Rex“ hingegen schlugen ihm wie seinerzeit mächtige Buhsalven entgegen. Der einstige Wegbereiter der Moderne, er hatte sich für Teile des Publikums überlebt. Und auch aus dem publizistischen Umfeld feuerten nun damalige Ultra-Avantgardisten wie Pierre Boulez unverblümt auf einen Komponisten, der weiterhin lieber tonal weiterschrieb statt jetzt sich mindestens zwölftönig zur Gegenwart zu bekennen. Wie aber die Musikgeschichte so spielt, sollten diese beiden Antipoden nicht nur bereits ein halbes Jahr später in New York direkt bei ihrer ersten Begegnung die Friedenspfeife rauchen. Boulez stieg schon bald auch auf Tonträger zu einem der wichtigsten Strawinski-Dirigenten auf. Umgekehrt begann Strawinski, sich intensiv mit den aktuellen Kompositionsmoden wie dem Serialismus zu beschäftigen, bei dem alle musikalischen Bausteine wie Tonhöhe und Lautstärke streng durchkonstruiert wurden. Kritische Stimmen haben zwar immer wieder angemerkt, dass Strawinski sich mit dieser musikalischen Kehrtwende bzw. Neuorientierung nur der jüngeren Komponistengeneration andienen wollte. Doch im Gegensatz zu den oftmals mehr als nur seelenlosen Klangkonstrukten und Kopfgeburten jener Zeit besitzen viele der in den 1950er- und 1960er-Jahren entstandenen Werke Strawinskis auch dank ihrer oftmals archaischen Kargheit etwas Vertrautes, Anziehendes. Dazu gehören etwa die wild funkelnden „Mouvements“ für Klavier und Orchester von 1959. Und nicht zuletzt die Chorwerke „Threni“ sowie „Requiem canticles“ leben von ihrer Balance aus strenger Form und bewegender Intensität.

Anziehende Archaik

Diese Meisterwerke aus Strawinskis musikalischem Spätherbst gehören im Konzertsaal und auch auf CD eher zu den Raritäten. Weshalb man jetzt schon zu der 30 CDs umfassenden, bei der Deutschen Grammophon veröffentlichten „Complete Edition“ greifen muss, um sie in exemplarischen Einspielungen für sich entdecken. Hier leitet der Strawinski-Eckermann Robert Craft die „Threni“, während Oliver Knussen mit den „Requiem canticles“ beeindruckt. Wie der Titel der Box andeutet, liegt hier die umfassendste Retrospektive vor, die bis zu Strawinskis allerletzten Stücken reicht – zu den 1968 entstandenen Bearbeitungen zweier Klavierlieder von Hugo Wolf mit der Mezzosopranistin Ann Murray sowie Boulez am Pult des Ensemble Intercontemporain. Überhaupt bildet Boulez bei den zusammengetragenen Einspielungen eine der tragenden Säulen. Mit dem Chicago Symphony Orchestra hat er den „Feuervogel“ sowie „Petrouchka“ und „Le Sacre du Printemps“ mit dem Cleveland Orchestra aufgenommen (diese Einspielung ist jetzt auch gesondert erschienen). Wie Monsieur hier bei aller analytischen Durchdringung des komplexen Geflechts und der Farbdetails auch den Geist des Strawinski-Freundes Claude Debussy einarbeitet, bleibt einfach phänomenal. Zu den weiteren Höhepunkten dieser Box zählen der „Oedipus Rex“ mit dem Chicago Symphony Orchestra und James Levine. Und das Violinkonzert ist gleich zwei Mal vertreten – mit Anne-Sophie Mutter (1987) sowie mit dem Widmungsträger Samuel Dushkin, der 1935 das Werk mit dem Komponisten am Pult des Orchestra Lamoureux einspielte. Auf dieses Gespann trifft man ebenfalls in der „Igor Stravinsky-Edition“ (Warner), die neben jüngeren Referenzeinspielungen wie „The Rake’s Progress“ (mit Kent Nagano) und „Apollon musagète“ (mit Simon Rattle) gleich auf drei CDs historische Aufnahmen mit dem russischen Musikpraktiker präsentiert. Dazu gehören Strawinskis Aufnahmen seiner drei großen Ballettmusiken genauso wie sein vierhändiges Klavierspiel mit dem Sohnemann Soulima. Aber auch die berühmte Einspielung der Ballettmusik „Jeu de Cartes“ mit den Berliner Philharmonikern widerlegt alle Nörgler, die Strawinskis Dirigat gerade mal wohlwollend einstufen. Auch ein Dirigent wie Riccardo Chailly, dessen Berg an Strawinski-Aufnahmen nun komplett erschienen ist, kann die historischen Tondokumente nur empfehlen: „Der Komponist wollte dokumentieren, was er tat und wie die Musik klingen sollte, daher muss man seine eigenen Einspielungen hören. […] Wer immer seine Werke aufführen möchte, darf diese Aufnahmen nicht außer Acht lassen. Ebenso die Metronomangaben, die in Strawinskis Werken nicht beliebig sind.“ Nicht ganz so dogmatisch sah es hingegen zwar der künstlerisch eher freier zu Werke gehende Leonard Bernstein in seinen Aufnahmen unter anderem mit dem New York Philharmonic und dem London Symphony Orchestra. Trotzdem riet er stets seinen Studenten: „Wenn ich nicht Brahms oder Tschaikowski oder Strawinski werde, wenn ich ihre Werke dirigiere, wird das zu keiner besonders guten musikalischen Darbietung reichen.“ Und so merkt man geradezu allein in Bernsteins Deutung des „Frühlingsopfers“, wie bei den stampfenden, tobenden und tosenden Rhythmen der Adrenalinspiegel bei ihm und den Orchestermusikern gestiegen ist. Überhaupt steckt in dem facettenreichen Schaffen Strawinskis diese Energie, die nichts an ihrer Wirkung und unmittelbaren Ansprache eingebüsst hat. Kein Wunder, dass sich jeder Dirigent einmal in seinem Leben auf das Abenteuer „Strawinski“ eingelassen haben muss. Auf seinen neo-klassizistischen Elan und Humor und seine jazzoiden Flirts, auf seine pointierten Stücke wie die für einen jungen Elefanten komponierte „Zirkus-Polka“ oder seine Verbeugungen vor dem großen Renaissance-Kollegen Carlo Gesualdo. Im Alter von 88 Jahren starb am 6. April 1971 der von Rolf Liebermann einmal als „Igor der Große“ bezeichnete, aus dem fernen Russland stammende Strawinski in New York. Begraben wurde er in Venedig, fast an der Seite seines alten Gefährten Sergei Djagilew. Und zu Strawinskis bis heute gültigen Leitsätzen gehört auch dieser: „Das allgemeine Problem mit dem Musikverständnis besteht darin, dass den Leuten zuviel Respekt vor Musik beigebracht wird. Man sollte sie lieber lehren, Musik zu lieben.“ Strawinski selbst hat viel dafür getan.

Neu erschienen:

Strawinski Complete Edition, 30 CDs

DG/Universal

Igor Strawinski-Edition, 23 CDs

Warner

Riccardo Chailly: Strawinski-Edition, 13 CDs

Decca/Universal

Petrouchka u. a.

mit Royal Liverpool Philharmonic Orchestra, Petrenko

Onyx/Note 1

Petrouchka, Le Sacre du Printemps

The Cleveland Orchestra, Boulez

DG/Universal

Le Sacre du Printemps u. a.

Los Angeles Philharmonic Orchestra, Salonen

DG/Universal

Leonard Bernstein conducts Strawinski, 6 CDs

Sony

Durchbruch

1910 kam Igor Strawinski zum ersten Mal nach Paris. Und hier war er sofort in aller Munde – dank seiner Ballettmusik zu „Der Feuervogel“. Sergei Djagilew hatte bei ihm die Musik für seine legendären Ballets Russes in Auftrag gegeben. Nachdem „Der Feuervogel“ im Juni 1910 im Pariser Théâtre de l´Opéra uraufgeführt worden war, wurde der damals noch unbekannte Komponist stürmisch gefeiert. Drei Jahre später hingegen löste Strawinsky dann im Pariser Théâtre des Champs-Élysées mit „Le Sacre du Printemps“ einen der größten Skandale der Musikgeschichte aus.

Guido Fischer, 27.03.2021, RONDO Ausgabe 2 / 2021



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