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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Nikolaj Lund

Ragnhild Hemsing

Im Norden verwurzelt

Die Geigerin sucht nach den Schnittstellen zwischen klassischer Musik und der Volksmusik ihrer norwegischen Heimat.

Selbst wenn man womöglich Gefahr läuft, damit böse Klischees zu bestätigen. Aber manchmal schadet es tatsächlich nicht, in jenem Land aufgewachsen zu sein, dessen Landschaft und dessen Traditionen einen Komponisten geprägt haben. Und nicht ohne Grund hat auch die norwegische Geigerin Ragnhild Hemsing den Titel ihres neuen Albums bewusst in ihrer Muttersprache belassen. Genauer gesagt im Dialekt ihrer Heimat Valdres. „Røta“, zu Deutsch „Wurzeln“, ist eine spannende Entdeckungsreise durch die Musik des hohen Nordens, bei der sich die klassische Violine mit der traditionellen Hardangerfiedel abwechselt. „Der Titel hat für mich eine doppelte Bedeutung,“ erklärt Hemsing. „Er bezieht sich einerseits auf die beiden Instrumente, mit denen ich aufgewachsen bin. Gleichzeitig wollte ich aber auch die Wurzeln der Komponisten erforschen, deren Stücke tief in der norwegischen Kultur mit ihrer Tanz- und Volksmusik, aber auch in unseren Sagen und Märchen verankert sind.“ Neben Werken von Edvard Grieg, Ole Bull und Johan Svendsen wird auf „Røta“ vor allem das Schaffen Johan Halvorsens beleuchtet, dessen eigenhändig verbranntes und erst durch einen glücklichen Zufall wiederentdecktes Violinkonzert 2016 für eine kleine Sensation sorgte. „Es ist schwer zu verstehen, warum er das getan hat. Vielleicht wollte er sich nur von seiner allerbesten Seite zeigen. Oder er war noch auf der Suche nach seiner eigenen Stimme. Es ist immer gut, selbstkritisch zu sein. Aber trotzdem bin ich dankbar, dass doch viele seiner Stücke überlebt haben. Die ‚Elegie‘ zum Beispiel, oder auch seine ‚Sarabande‘. Das ist einfach wunderschöne Musik, die ich gerne einem breiteren Publikum bekannt machen möchte.“ In einem völlig neuen Licht erscheint hier aber ebenfalls die bekannte „Passacaglia“, in der Halvorsen ein Thema von Georg Friedrich Händel aufgreift. Sie erklingt nämlich in einer Bearbeitung für Hardangerfiedel und Cello. „Die Fiedel wird meist ohne Vibrato gespielt. Da haben wir schon die erste Parallele zur Barockmusik. Sie ist ein Instrument, das viele Möglichkeiten bietet, von denen einige noch nicht vollständig erforscht sind. Unser Album ist da nur ein erster Schritt.“ Ragnhild Hemsing geht es vor allem darum, die Schnittstellen zwischen Klassischer Musik und Volksmusik aufzuspüren, Gemeinsamkeiten zu erforschen, aber auch Unterschiede herauszuarbeiten. So verweist sie im Gespräch unter anderem auf Edvard Grieg, der den mit seiner Nichte verheirateten Kollegen Halvorsen einst darum bat, einen berühmten norwegischen Volksmusiker aufzusuchen und dessen Lieder auf Notenpapier festzuhalten. Melodien, die sich heute sowohl in den Werken Griegs als auch bei Halvorsen heraushören lassen. Wie die berühmten Landsmänner spürt auch Ragnhild Hemsing eine starke Verbindung zu den traditionellen Klängen ihrer Heimat. Eine Liebe, die sich gerade auf der Hardangerfiedel wunderbar zum Ausdruck bringen lässt. „Für mich ist es wichtig, offen für andere Einflüsse zu sein, und ich finde es wunderbar, dass junge Komponisten die Volksmusik auf neue Art und Weise, in einer neuen musikalischen Sprache verwenden. Volksmusik ist nicht auf eine bestimmte Spielweise eines Instruments festgelegt.“ Das unterstreicht sie nun mit ihrem neuen Album, auf dem sie virtuos zwischen den Welten hin und her wechselt. „Ich habe nie daran gedacht, die Fiedel aufzugeben, weil ich es einfach wichtig finde, auch diese Seite unseres kulturellen Erbes zu pflegen. Meine Heimat Valdres hat eine sehr reiche Volksmusiktradition. Daher wäre es mir schwergefallen, mich allein auf die Geige zu konzentrieren. Aber glücklicherweise habe ich gemerkt, dass man sehr wohl auch beides miteinander verbinden kann, wenn man wirklich dafür brennt.“ Dass dies bei ihr zutrifft, wird wahrscheinlich niemand bezweifeln, der erlebt, mit welcher Leidenschaft sie von den Aufnahmesitzungen spricht, bei denen sie von Pianist Mario Häring und Benedict Kloeckner am Cello begleitet wurde. Oder von der Zusammenarbeit mit Arrangeur Tormond Tvete Vik, der unter anderem die traditionellen Wurzeln der kleinen Halvorsen-Kompositionen und der Nummer 6 („Norsk“) aus Griegs „Lyrischen Stücken“ freilegte. „Es ist ein sehr persönliches Album geworden. Mehr noch als meine bisherigen Aufnahmen. Denn diesmal konnte ich beide Instrumente miteinander verbinden und habe dafür sogar einige Stücke extra neu für die Hardangerfiedel arrangieren lassen. Das wollte ich schon immer mal ausprobieren, denn es unterstreicht nicht nur meine kulturelle Herkunft, sondern auch meine Identität als Musikerin.“

Neu erschienen:

Grieg, Bull u. a.

„Røta“, Werke für Violine oder Hardangerfidel

mit Hemsing, Häring, Kloeckner

Berlin Classics/Edel

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Resonanz in Hollywood

Die Hardangerfiedel (Hardingfele) ist ein traditionelles Streichinstrument der norwegischen Volksmusik, das vor allem im Südwesten des Landes beheimatet ist. Im Vergleich zur Geige verfügt es neben den üblichen vier Saiten noch über fünf zusätzliche Resonanzsaiten, die unterhalb des Griffbretts verlaufen. Die Hardangerfiedel wurde nicht nur von norwegischen Komponisten wie Edvard Grieg oder Geirr Tveitt geschätzt, die ihren Werken damit spezielles Lokalkolorit verliehen. Auch Kinogängern dürfte der spezielle Klang vertraut sein. So hört man das Instrument etwa in den Soundtracks zu „Dunkirk“ und „Fargo“ sowie in Howard Shores Oscarprämierter Musik zur „Herr der Ringe“-Trilogie.

Tobias Hell, 13.02.2021, RONDO Ausgabe 1 / 2021



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