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N° 1354
20. - 28.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Trotz Abstand: Bei den Klappstuhlkonzerten konnte das Publikum erlesene Schloss-Serenaden auf Burg Hellenstein genießen © Oliver Vogel

Opernfestspiele Heidenheim

Hat sich bewehrt

Trotz Corona-Absage ihres regulären Programms haben die Opernfestspiele Heidenheim auch im Juli 2020 sehenswerte Alternativen geboten.

Am Ende gab es dann doch noch richtiges Musiktheater in Heidenheim: „Nau bens hald i“, so der schwäbische Titel der Pop-Up-Oper von Sebastian Schwab und Hendrik Rupp – zu hochdeutsch etwa: „Dann bin’s halt ich“ – erzählt von Georg Elser, dem Handwerker aus dem nahegelegenen Königsbronn, der kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs versucht hatte, Hitler mit einer Bombe zu töten. Für die elf geplanten Open-Air-Aufführungen, die über zwei aufeinanderfolgende Wochenenden aufgeteilt an unterschiedlichen Orten in Heidenheim stattfinden, genügen ein Leiterwagen, ein Sänger, drei jugendliche Laiendarsteller und zwei Musiker.
Natürlich hat man in der Festivalstadt an der Brenz ursprünglich in ganz anderen Dimensionen gedacht. Wie in jedem Jahr hätten hier bei den Opernfestspielen zwei große Produktionen im Juli über die Bühne gehen sollen: einmal „Don Carlo“ und, als weiterer Teil des Heidenheimer Zyklus mit frühen Verdi-Opern, das selten gespielte Dogen-Drama „I due Foscari“. Wie vielerorts machte das SARS-CoV2-Virus auch hier jahrelanger Planung einen Strich durch die Rechnung. Doch nachdem wochenlang kaum abzusehen war, ob überhaupt noch irgendetwas stattfinden konnte, regte sich die Kreativität – und der Wille, wenn schon nicht mit großen Opernproduktionen so zumindest doch mit kleinen Formaten Präsenz zu zeigen. Wie schade wäre es auch gewesen, wenn das Ambiente der Schlossruine Hellenstein, die den Festspielen traditionell als Freiluftbühne dient, in diesem wetterbegünstigten Jahr ungenutzt geblieben wäre.
Ehrfurchtgebietend schaut die mächtig bewehrte Befestigungsanlage vom Schlossberg aus auf die schwäbische Stadt mit ihren 50.000 Einwohnern herab. Der verfallene Rittersaal bietet Platz für ein großes Auditorium sowie eine Bühne mit vorgelagertem Orchestergraben, auf der sich problemlos szenische Aufführungen realisieren lassen. Um aus der Not eine Tugend zu machen, hat die Festivalleitung im Corona-Jahr statt der üblichen Sitzplatzreihen Klappstühle in dem romantisch verwilderten Areal aufstellen lassen. Ein Publikum von zirka 150 Leuten – knapp ein Zehntel der sonst üblichen Zuhörerschaft – hat in gebührlichem Abstand darauf Platz genommen und lauscht am letzten Festivalwochenende einem klavierbegleiteten bunten Abend des Sänger-Duetts Leah Gordon und Vikrant Subramanian. Beliebtes und Bekanntes aus Oper, Operette und Musical zaubert Sommerabend-Flair in die Ruine.

Test für’s Aufnahmestudio

In der Woche zuvor hatte hier die Streichersektion der Cappella Aquileia ein Programm mit populären Werken von Mozart, Britten und Elgar bestritten. Unter Leitung seines Künstlerischen Direktors Marcus Bosch ist das 2011 von Spitzenmusikern aus ganz Deutschland gegründete Festivalorchester dann auch in großer Besetzung zu hören gewesen; allerdings nicht im Freien, sondern im unmittelbar in Schlossnähe gelegenen Congress Centrum, das als Teilkomplex des angegliederten Hotels im Jahr 2009 eröffnet wurde. Seitdem dient es nicht nur den Opernaufführungen als Ausweichquartier bei schlechtem Wetter, es finden im Rahmen des Festivalprogramms auch Konzerte darin statt – und CD-Aufnahmen, wie die der Musik zu Goethes „Egmont“, als drittem Teil einer Reihe mit Einspielungen Beethovenscher Theatermusiken, die Marcus Bosch und die Cappella Aquileia gemeinsam mit dem Label cpo im Jahr 2018 gestartet hat. Dank eines speziellen Hygiene-Konzepts durfte in diesem Jahr eine ausgewählte Zuhörerschaft an der Aufnahme-Session teilnehmen.
Die Festspielverantwortlichen in Heidenheim hatten das Glück, dass sie sich trotz der misslichen Umstände auf ihre Sponsoren verlassen konnten. Besondere Unterstützung hat die Veranstaltung durch eine Biotech-Firma erhalten, die es den Beteiligten ermöglichte, sich jeweils vor und während der Proben bzw. CD-Aufnahmen auf Covid19 testen zu lassen. Da jeder einzelne Test negativ ausgefallen war und ein Infektionsrisiko so gut wie nicht bestand, gab das Gesundheitsamt grünes Licht, dass das Orchester in (nahezu) üblicher Sitzordnung auftreten konnte: Als deutschlandweit erstes Orchester nach Ausbruch der Pandemie spielte die Cappella Aquileia beim abschließenden Konzert am 26. Juli daher ohne spezielle Abstandsregelungen und in großer Besetzung. Distanz halten musste nur das Publikum. Jedoch wurde das Programm mit Werken von Mozart, Strauß, Bernstein u.v.a. vom Congress Centrum aus live via SWR4 ins gesamte Sendegebiet ausgestrahlt. Marcus Bosch hatte zuvor alle Hörer, vor allem die in Heidenheim, dazu aufgefordert, während der Übertragung die Fenster weit zu öffnen, damit sich die Musik wie eine „Klangwolke“ über Straßen und Plätzen legen kann; „Klangwolke“ lautete dann auch das Motto dieses hörenswerten Festspiel-Finales.

Die Opernfestspiele Heidenheim online:
www.opernfestspiele.de

Freiluftkonzerte, damals und heute

Nach kleineren Anfängen 1964, als erstmals Freiluftkonzerte in der Ruine des Rittersaals von Burg Hellenstein stattfanden, erlebten die Heidenheimer Opernfestspiele mit der Aufführung von Wolfgang Amadeus Mozarts „Entführung aus dem Serail“ im Jahr 1977 ihre eigentliche Geburtsstunde. Seither wurden in jedem Sommer eine oder zwei neue Opernproduktionen in der zwischen Aalen und Ulm gelegenen Stadt an der Brenz herausgebracht. 2006 installierte das seit 2010 unter Künstlerischer Direktion von Marcus Bosch stehende Festival mit der JUNGEN OPER HEIDENHEIM eine eigene Musiktheatersparte, die sich gezielt an das Publikum von Morgen wendet.

Stephan Schwarz-Peters, 22.08.2020, Online-Artikel



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