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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Giulia Papetti

Accademia Bizantina

Aus freien Stücken

Nun auch die Accademia Bizantina: Mit Händels „Rinaldo“ gibt die barocke Eliteklangtruppe unter Ottavio Dantone den Startschuss für ihr eigenes Label.

Wie praktisch. Nicht allein ist das Ravenna Festival das erste der italienischen Festspiele, das diesen Corona-Sommer wieder spielt – mit immerhin 49 Konzerten unter samtigweichem Adria-Sternenhimmel in der venezianischen Renaissance-Ruine der Rocca Brancaleone. Man hat sich dort, internationales Reisen ist noch kompliziert, auf ein weitgehend italienisches Programm konzentriert. Und ja, da ist es natürlich praktisch, wenn eines der besten Alte-Musik-Ensembles nicht nur des Stiefels, sondern weltweit, kaum eine Autoviertelstunde weg, im hübschen, sogar mit einem Teatro Goldoni versehenen Marktflecken Bagnacavallo, zu Hause ist. Freilich erst seit Ende der Neunzigerjahre, gegründet hat man sich 1983 in der ehrwürdigen Stadt mit den acht Unesco-Weltkulturerbe-Stätten.
Und so kam die Accademia Bizantina unter ihrem cembalospielenden Chef Ottavio Dattone jüngst mal wieder zu einem Auftritt an ihrem Gründungsort. Mit einem der schönsten Händel-Oratorien, der Jugendsünde „Il trionfo del tempo e del disinganno“. Die letztgenannte allegorische Figur wurde selbstredend vor der wundervollen, erdigen wie flexiblen Hausaltistin der Wundertruppe gesungen, der Französin Delphine Galou.

Liebhaberbesetzung mit Hochtönern

Und diese wiederum verkörpert auch die Titelrolle in einer weiteren Händel-Oper, einem der jüngsten und erfolgreichsten Unternehmungen der weithin gefeierten Truppe, seiner melodienüberbordenden Seria „Rinaldo“. Das Kreuzfahrer-Epos mit Sarazenen, christlichen Rittern und der Zauberin Armida war im Herbst und Winter 2018/19 in Oberitalien auf einer von Publikum wie Kritik gefeierten Tournee unterwegs durch mehrere Theater. Der Mittschnitt aus Como, mit ein wenig Verbesserungen aus einer Sitzung davor, wurde jetzt als Aufnahme zugrunde gelegt beim ersten Album auf dem neuen, hauseigenen, nach einem Sponsor benannten Label HDB Sonus. Veröffentlicht wird „Rinaldo“ Anfang Juli, dann gibt es die Scheibe im ensembleeigenen Webshop, der sonstige Vertrieb erfolgt ausschließlich digital.
„Wir wollten das schon lange machen“, erzählt Ottavio Dantone von seinem jüngsten Baby. „Wir haben zwar ein gutes Verhältnis zur Firma naïve und werden auch weiterhin mit denen zusammenarbeiten, etwa bei den Veröffentlichungen von Händels Concerti grossi opera 3 und 6, die bereits eingespielt sind.“ Auch die gefeierte Vivaldi-Edition, bei er als nächstes das Pasticcio „Bajazet“ ansteht, das eigentlich „Tamerlano“ heißen müsste, werde weiterhin vom Ensemble federführend bedacht, führt Dantone aus. „Die ‚Concerti con molti strumenti‘ sowie geistliche Musik sind als anstehende Folgen gegenwärtig in Planung. Aber wir wollten eben auch schon lange die Flexibilität eines eigenen Labels. Um unabhängig zu entscheiden, was uns wichtig ist und wann wir es herausbringen wollen.“
Eine solche ungewöhnlich bekannte, zum Vergleich herausfordernde Barockoper ist ein deutlicher Auftakt. Auch wenn heute mit CDs nicht mehr wirklich Geld zu verdienen ist: Es sind Visitenkarten, in diesem Fall auch Ausrufezeichen. Ottavio Dantone hat dafür eine erlesene Spezialistenbesetzung, mehrheitlich italienischer Vokalisten, zusammengebracht. Neben dem Rinaldo von Delphine Galou sind die vielversprechende Francesca Aspromonte als Almirena und Anna Maria Sarra als feuerspuckende Armida dabei. Raffaele Pe, der gegenwärtig beste italienische Countertenor, ist Goffredo. Denn Ottone hat sich zwar für die reichhaltigere „Rinaldo“-Zweitfassung entschieden, aber für die Liebhaberbesetzung mit dem Kastratenpart der Uraufführung. Den Argante singt Luigi de Donato, den Mago Cristiano Federico Benetti. Und nicht nur ihr Idiom ist makellos.
Wie bewegt man sich im Klangkreis zwischen Vivaldi und Händel? „Sehr bequem“, sagt Dantone. „Ich liebe es, immer mehr in Vivaldi und seinen sofort erkennbaren Stil einzutauchen. Das ist ja das Besondere bei ihm, er bewegt sich innerhalb der barocken Schablonen, hat aber einen außerordentlichen Wiedererkennungswert. So wie Händel, der eben auch so einzigartig ist. Unglaublich, wie schnell der den italienischen Modus draufhatte und trotzdem seine deutschen Harmonie-Ursprünge eigentlich nie verleugnet. Einer der größten Melodiker überhaupt, dabei auch ein ganz und gar feinfühliger Psychologe, der gerade in den Überarbeitungen seiner Opern fast seismografisch auf die Besonderheiten der neuen Sänger einzugehen im Stande ist.“
Ottavio Dantone am Pult der so beweglich wie warm aufspielenden Accademia Bizantina unterstreicht solches als berufener, dabei nie dominater Vokalspezialist, der fantasievoll für die spannenden Verzierungen von Da-Capo-Teilen in den Solonummern bereitsteht.

Händel

Rinaldo

Galou, Aspromonte, Sarra, Pe, De Donato, Benetti, Bessi, Accademia Bizantina, Dantone

HBS Sonus (zu beziehen über www.hdbsonus.it/en)

Erfrischender Eigensinn

Kaum ein Ensemble hat sich so hingebungsvoll barocker Kammermusik verschrieben wie die 1983 in Ravenna gegründete Accademia Bizantina. Künstler wie Jörg Demus und Riccardo Muti erkannten das Potenzial und unterstützten diese Entwicklung. Ottavio Dantone trat sechs Jahre nach der Gründung als Cembalist ein und übernahm 1996 zudem die musikalische wie künstlerische Leitung. Unter seiner Führung hat man nicht nur eine ästhetische Annäherung an die Barockmusik geschafft, die historischen Instrumente geben den Werken Tiefe. Der weltweit gefeierte Dantone nimmt sich aber auch künstlerische Freiheiten und verleiht so seinen funkelnden Interpretationen individuelle Frische.

Matthias Siehler, 04.07.2020, RONDO Ausgabe 3 / 2020



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