Als der australische Pianist Leslie Howard zu Beginn des Liszt-Jahres 2011 seine gesammelten Einspielungen in einer Box herausgab, wusste man endgültig, dass man nur einen Bruchteil des Vielspielers und Vielschreibers Liszt kennt. Auf immerhin knapp 100 CDs verteilt sich da das komplette Klavierwerk. Und nebenbei konnte Howard gleich mit über 300 Weltersteinspielungen auftrumpfen. Wie es aber bei solchen enzyklopädisch angelegten Großprojekten so ist, darf man gerade bei den diskografischen Ausgrabungen weder pianistische Wunder noch kompositorische Gipfelbesteigungen erwarten. Liszt soll laut seiner Zeit- und Ohrenzeugen zwar mit seinen zehn Fingern auch orchestral raumgreifende Klänge inszeniert haben. Doch auf »Albumblättern«, die schon nach elf Sekunden vorbei sind, waren selbst Liszts Hände und Fantasie gebunden. Mehr als zwei Dutzend solcher aufgespürten Piècen hat sich Howard für das Finale seiner Liszt-Expedition aufgehoben. Unter dem Titel »New Discoveries Vol. 3« tummeln sich da erste, pianistische Gedankenfetzen von größeren Projekten. Zu hören ist aber auch eine halbminütige, wundersam dahinwiegende »Adagio religioso«- Meditation des erst 14-Jährigen! Aussagekräftiger sind dagegen einige unbekannte Fassungen von Bearbeitungen angelegt. Improvisatorischen Esprit besitzt nun die erneute Annäherung an Wagners »Tannhäuser«-Marsch.
Mit der ersten Version vom Marsch aus Berlioz’ »Harold en Italie« blieb Liszt eng am Original – und unterstrich somit seine Geistesverwandtschaft mit jenem Franzosen, dem er besonders in Weimar einen roten Festival-Teppich nach dem anderen ausbreitete. Die Verbundenheit mit Berlioz äußerte sich bei Liszt darüber hinaus nicht nur in seiner berühmten Schrift »Berlioz und seine Haroldsymphonie « (1855). Bereits 1833 hatte Liszt mit seiner Klavierfassung von Berlioz’ »Symphonie fantastique« begonnen. Und wie Detlef Altenburg 2003 während eines Berlioz-Symposiums anmerkte, war diese Bearbeitung gleichermaßen das Fundament, auf dem der Klavier- Komponist Liszt seine ersten großen Zyklen wie die »Harmonies poétiques et religieuses« konzipieren sollte. Diesen inspirierenden Energiegehalt lässt jedoch jetzt der französische Pianist Roger Muraro bei seiner Einspielung der Liszt’schen »Symphonie fantastique” etwas vermissen. Denn für Muraro zählt eher die Clarté des verzweigten Stimmengeflechts und nicht das harmonisch explosive Potential, über das Berlioz und eben auch Liszt das Erzählerische der Instrumentalmusik injizieren sollten.
Wie anders schafft es dagegen Muraros Landsmann François-Frédéric Guy in den »Harmonies poétiques et religieuses«, die klare klavieristische Façon mit einer Beredtheit im Sublimen zusammenzubringen. Nichts verklumpt hier zu einer gefühligen Spiritualität. Vielmehr erlebt man in dem 1853 vollendeten Zyklus auch dieses impressionistische Flimmern, mit dem Liszt – weit vor seinem Spätwerk – das frühe 20. Jahrhundert vorausgeahnt hat. Weil im Jahr 1853 Liszt aber auch seine h-Moll- Sonate fertig stellte, ließ es sich Guy nicht nehmen, diesen Evergreen gleich noch nachzuschieben. Das hätte er jedoch vielleicht besser nicht getan. Denn mit seiner bisweilen ins Hektische umschlagenden Attacke und oftmals allzu grüblerischen Haltung bietet er unter dem Strich leider nur pathosgetränkte Konfektionsware.
Davon ist selbstverständlich der Kanadier Marc-André Hamelin meilenweit entfernt dank einer schon fast provokant wirkenden Souveränität, mit der er sich auf die pianistischen Berg- und Talfahrten begibt. Und dabei überlässt er es lieber anderen, die Sonate als artistisches Teufelszeug zu propagieren. Hamelin schüttelt dagegen all die Stimmungsumbrüche, Prestissimo-Oktaven und orchestralen Schübe mit einer Lässigkeit aus dem Ärmel, dass es schon fast an Magie grenzt. So verblüffend Hamelin all das auch noch mit 1001 Klangfarben spickt, so fehlt einem hier und da doch dieses expressive Ringen und gespannte Zittern, mit dem etwa die nicht weniger virtuose Martha Argerich ins eigentliche Herz-Rhythmus-System der Sonate vordrang. Und was für ein Druck in dem Sonaten- Kessel tatsächlich herrschen kann, hat nicht zuletzt Vladimir Horowitz immer wieder bewiesen. Zuerst in den 1930er Jahren, als er das damals im Konzertsaal noch verschmähte Werk regelrecht rehabilitierte. Und auch in den Aufnahmen von 1949 und 1977, die jetzt in der 4CD-Box »Horowitz Plays Liszt« wiederveröffentlicht wurden, wird man Ohrenzeuge eines desperaten Dramas in Endzeitstimmung. Zum Irrwitzigsten, was Horowitz wohl jemals auf der Liszt’schen Kurzstrecke hingelegt hat, gehören andererseits die Live-Aufnahmen der Ungarischen Rhapsodien Nr. 2 & 6 aus den Jahren 1953 bzw. 1951.
Danach muss man erst mal wieder durchatmen. Und beim Liszt-Interpreten Nelson Freire konnte man das schon immer in Vollendung. Sein mit »Harmonies du soir« betiteltes Recital spannt den Bogen vom belcantisch-pastoralen »Waldesrauschen« über den verspielt ’ausgesungenen’ »Valse oubliée« bis zur gravitätisch kernigen 2. Ballade. Das ist Liszt ohne Mätzchen, dafür mit viel Leuchtkraft und Sensibilität. Einen ähnlichen Zugriff beweist auch Boris Bloch auf seiner neuesten Liszt-Aufnahme. Der Russe, der seit einer halben Ewigkeit an der Folkwang-Hochschule lehrt, findet die perfekte Balance zwischen Glamour und poetischer Durchdringung. Dabei sind die live mitgeschnittenen Werke, die Bloch u. a. in Duisburg, Düsseldorf und Essen gespielt hat, manuell allesamt keine Leichtgewichte. Da wechseln sich etwa gewaltige Paraphrasen über Themen von Händel (Almira) und Mozart (Figaros Hochzeit) mit den atemberaubenden »Grandes études de Paganini « ab. Aber Bloch behält nicht nur überall souverän die Nerven und die Übersicht. Bei ihm schlägt Liszts Lust am kolossalen Effekt schon mal in spöttische Dämonie um. So richtig ins Singen kommt Liszt hingegen erst bei der Französin Lise de la Salle. Im Wechsel mit ausgewählten Schlagern wie den »Funérailles « und der markant durchpulsten »Dante-Sonate « taucht de la Salle mal feinnervig in den Schmerzenston des »Lacrymosa« von Mozart in der Bearbeitung Liszts. Durch die Lüfte schwebt sie dann in Schumanns »Liebeslied « – bevor sie in »Isoldes Liebestod« für verlockende Zartbitterstoffe sorgt.
Von den hier eingespielten Werken gibt es grundsätzlich Aufnahmen wie Sand an Meer. Und auch Liszts »Années de pèlerinage« sind nicht gerade stiefmütterlich behandelt worden. Immerhin zwei Neuheiten vermitteln einen so noch nie gehörten Einblick in die »Wanderjahre«. Tomas Dratva hat das »Schweiz«- Jahr auf Richard Wagners Steinway gespielt, der trotz seines Baujahrs 1876 ungemein gut in Schuss und bei Lunge ist. Und Ragna Schirmer ist für die Gesamteinspielung nicht nur Liszt nachgereist, wie ein Fototagebuch im Booklet dokumentiert. Eingestreut werden immer wieder vom Ensemble amarcord gesungene Madrigale der Renaissance- Maestri Gesualdo und Marenzio – als gelungene Reminiszenz an den glühenden Dante- und Petrarca-Verehrer Liszt.
Ars Produktion/Note 1
Oehms/harmonia mundi
Decca/Universal
Zig-Zag/Note 1
Hyperion/Codaex
Sony
Hyperion/Codaex
Newton/Codaex
Decca/Universal
Aparté/harmonia mundi
naïve/Indigo
Berlin Classics/Edel
Guido Fischer, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 5 / 2011
Geschichtenerzähler
Der als große Hoffnung gehypte Tenor erweitert sein lyrisches Fach – hin zu Verdi, Puccini und […]
zum Artikel
Ist sein neuer Rauschebart gewollt? Oder hat Andris Nelsons momentan einfach keine Zeit mehr für […]
zum Artikel
Järvi-Familientreffen
Zehn Tage lang, vom 12. bis 21. Juli, steht Estlands Sommerhauptstadt Pärnu ganz im Zeichen der […]
zum Artikel
Ihre Wochenempfehlung der RONDO-Redaktion
An dieser Stelle finden Sie Inhalte eines Drittanbieters, die Sie mit einem Klick anzeigen lassen können.
Mit dem Laden des Audioplayers können personenbezogene Daten an den Dienst Spotify übermittelt werden. Mehr Informationen finden Sie in unseren Datenschutzbestimmungen.
Nach seiner viel beachteten Aufnahme der 7. Sinfonie setzen François-Xavier Roth und das Gürzenich-Orchester Köln ihre Bruckner-Gesamteinspielung fort. Die „Romantische“, wie Anton Bruckner seine vierte Sinfonie selbst betitelt, komponierte er 1874 inmitten einer Zeit persönlicher Niederlagen. Und er zweifelt sofort an seinem Werk, bezeichnet manche Stellen als „unspielbar“ und findet die Instrumentation „hie und da überladen und zu unruhig“. Erst Jahre später, nach […] mehr