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Obacht! Sie nähern sich der beethovenfreien Zone! Es muss sein. Wenigstens für die Dauer dieses jungen Jahres, weil das, was zurzeit beethovenbezüglich an polierter Langeweile unterwegs ist, allmählich doch überhandnimmt. Fazıl Say, zum Beispiel (Warner). Vorlaut, unsortiert, steht auf dem Pedal, überpointiert in jedem zweiten Takt, verwechselt Leidenschaft mit Lautstärke, hält Letzteres für Persönlichkeit und ruft zum Beweise dessen zwanzigmal „Ich-Ich-Ich“, pro Booklet-Seite. Das hatten die sieben jungen Pianisten, als sie im Sommer bei Franz Xaver Ohnesorg im Ruhrpott debütierten, längst nicht mehr nötig: Giuseppe Guarrera, Tiffany Poon, Alexander Ullman, Lauren Zhang und Nicolas Namoradze haben ihren je eignen Stil gefunden für Bach oder Liszt. Elisabeth Brauß, die bereits, wie Poon, die eigene Wunderkindkarriere überlebte, ist zurzeit als „New Generation Artist“ ein Star der BBC. Auf dem Sammelalbum Edition Klavier-Festival Ruhr Vol. 38 (harmonia mundi) ist sie zwar mit „nur“ vier kurzen Scarlatti-Sonaten vertreten, doch das reicht aus: So differenziert die Dynamik, so leuchtend und vielfach abgetönt die Farben! Der besonnene Till Hoffmann dagegen, der, wie Brauß, inzwischen in der Hochbegabten-Pianistenschmiede in Hannover gelandet ist, nimmt sich viel Zeit, um in vollendeter Klangdramaturgie die sechste Englische Suite zu erzählen, als sei dies ein alter, kostbarer Gedichtzyklus, oder die großen Schumann-Variationen in fis-Moll von Johannes Brahms, wie einen Roman.
Zwei Frauen machen sich stark für fünf vergessene Komponistinnen. Bravo, bravissimo! Die Quote haben Juliette Hurel (Flöte) und Hélène Couvert (Klavier) mit ihrem delikat musizierten Programm zum Thema „Compositrices à l’aube du XXe Siècle“ auf jeden Fall erfüllt (Alpha/Note 1). Aber wozu soll das gut sein, bei so schwacher, flacher Musik? Nett und sinnfrei zwitschern und sequenzieren die Salonstücke von Melánie Bonis oder Clémence de Grandval oder Cécile Chaminade vor sich hin. Sogar das Nocturne Lili Boulangers scheint in diesem uninspirierten Umfeld sein Geheimnis zu verlieren.
Der Arpeggione ist das Instrument der Sehnsucht nach etwas Neuem, Unbekannten. Franz Schubert wusste diese rätselhafte Riesengitarre noch zu spielen – eine von vielen vergessenen Erfindungen der Instrumentenbauer in jener Übergangszeit zwischen aristokratischem Salon und bürgerlicher Öffentlichkeit. Hatte vier Oktaven, sechs Saiten, war mit dem Bogen zu streichen und tönte zart und durchdringend zugleich, was ein bisschen am Herzen ziept, ähnlich der Oboe in den hohen Registern, „gegen die Tiefe dem Bassethorn gleich“. Rund um Schuberts Arpeggione-Sonate a-Moll hat der Arpeggionist Guido Balestracci eine wunderbar traumverlorene Schubertiade arrangiert, mit dem Ensemble L’Amoroso und der Sopranistin Caroline Pelon (Ricercar/Note 1). Eine Liedbearbeitung stammt von Pauline Viardot-Garcia, ein andermal sind ein paar Takte aus einer Beethovenvariation zu hören. Ganz ohne geht es offenbar doch nicht.
Locker, brillant und schlackenfrei präsentiert die Geigerin Mirijam Contzen zwei unbekannte, gesangs- und passagenreiche Violinkonzerte, die ebenfalls immer mal wieder, etwa zu Beginn des Adagios, entfernt beethovensch klingen. Doch hier ist der Held nur Fußnote. Dafür steht eine der Fußnoten aus den Beethovenbiografien im Fokus, nämlich der um zwölf Jahre jüngere Komponist, Dirigent und Geiger Franz Joseph Clement, wiederentdeckt von Reinhard Goebel, der dieses spektakuläre Clement- Album mit Contzen und dem WDR Sinfonieorchester einstudiert und dirigiert (Sony). Beide Werke, das in D-Dur und das in d-Moll von 1805/06, sind mehr als nur interessante Rarität. Sie haben Esprit und weisen, glanzvoll instrumentiert und stilistisch unabhängig, den Weg ins Virtuosenkonzert. Übrigens war es Clement, der bei Freund Beethoven ein Violinkonzert in Auftrag gab und uraufführte – „auf dem zwar Beethoven draufstand, in dem aber doch eine Menge Clement drin war“, wie Goebel frotzelt. Da ist was dran.
Eleonore Büning, 22.02.2020, RONDO Ausgabe 1 / 2020
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