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N° 1353
13. - 21.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Marco Borggreve

Fazıl Say

„Ich bleibe ungläubig“

Der Pianist über die 32 Klaviersonaten von Beethoven, den Alkohol – und darüber, was sein Prozess in der Türkei für ihn bedeutete.

RONDO: Herr Say, zum Beethoven-Jahr sind Sie einer der wenigen, die den gesamten Zyklus der 32 Klavier-Sonaten von Beethoven neu eingespielt haben. Nur aus diesem Anlass?

Fazıl Say: Das Jubiläum hat den richtigen Kick gegeben. Und mir Mut. Die Werke kenne ich seit Ewigkeiten. Seit meiner Kindheit, um genau zu sein. Doch sie sind trotzdem offene Rechnungen. Mehr als 15 Sonaten waren neu für mich.

RONDO: Worin besteht also Ihre Methode?

Say: Zunächst einmal: im Ort. An Aufnahmeplätzen wie dem Salzburger Mozarteum, an das ich schöne Erinnerungen habe und wo auch die Mozart-Sonaten aufgenommen wurden, habe ich es mir zugetraut. Die Methode bestand im Durchblick, den ich erstmals durch den gesamten Lauf der 32 Sonaten gewann.

RONDO: Worin besteht der Fortschritt bei Beethoven?

Say: In der Entdeckung des Orchesterklangs – fürs Klavier. Die frühen Sonaten lehnen sich noch recht eng an Joseph Haydn an. Präzision braucht man da. Das ändert sich mit der „Appassionata“, der „Waldstein“-Sonate und erst recht der kaum manuell greifbaren „Hammerklaviersonate“. Hier steckt ein Orchester im Klavier.

RONDO: Sie waren stets ein sehr perkussiver, das Klavier als Schlaginstrument ansehender Pianist. Warum?

Say: „Pulsiv“ würde ich lieber sagen. „Rhythmische Melodie“ nannte das Igor Strawinski. Mein vielleicht größter pianistischer Einfluss ging von dem Jazz-Pianisten Art Tatum aus. Beethoven hat den Swing entdeckt: Also muss ich ihn auch so spielen.

RONDO: Tatsächlich wurde Beethoven – ähnlich wie später Keith Jarrett – von seinen Zeitgenossen zunächst als konzertierender Improvisationskünstler bewundert. Merkt man das?

Say: Man sollte es. Der 1. Satz der Sonate Nr. 30 klingt ohne Weiteres wie improvisiert. Das sieht man der Handschrift auch an. Beethoven hatte keine Zeit. Und hat so schnell notiert, dass nur zwei, drei Töne auf einer Seite stehen. Ich gebe mir alle Mühe, solche Stücke im Sinne spontanen Musizierens und Fantasierens aufzuführen.

RONDO: Woran hört man Spontaneität?

Say: Daran, dass es nicht geübt klingt. Das ist leider, leider heutzutage nicht unbedingt die Regel. Vielen Aufnahmen hört man das viele Üben an. Dann wird’s didaktisch. Texttreue und Überraschung zu kombinieren, darin besteht das große Kunststück.

RONDO: Beethoven gilt als politischer Komponist. Zu Recht?

Say: Ja. Schon deswegen, weil er erstmals den Musiker als Einzelgänger repräsentiert. Als Künstler, der vom Volk lebt. Noch bei Haydn war das anders. Er war Auftragnehmer eines Dienstherrn. Und musste politisch ‚passen‘. Beethoven dagegen ist ein Pionier und Einzelgänger- Typ, zugleich Auftraggeber seiner selbst. Schon das eröffnete ihm ganz andere politische, humanistische Perspektiven. Interessant ist, dass heutige Komponisten, auch ich, große Werke gleichfalls im Auftrag komponieren. Sie müssen davon leben. Da muss man sich die politische Bedeutung von Fall zu Fall neu erobern.

RONDO: Manche Diktatoren, die Schlimmes verursacht haben, schwärmten für klassische Musik. Ist die Annahme, dass Musik verbindet, ein Trugschluss?

Say: Teilweise schon. Aber es gibt Gegenbeispiele. Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra ist eine sehr gute Idee. Dort spielen Musiker, die für politisch verfeindet gelten könnten, in musikalischem Einvernehmen. Das ändert politisch zwar unmittelbar immer noch nichts. Aber hilft doch. Um gegen die Abholzaktion einer kanadischen Firma vorzugehen, habe ich kürzlich ein Konzert open air auf einem Berg gespielt. Die öffentliche Aufmerksamkeit war groß, das Abholzen wurde gestoppt. Das hat freilich nicht die Musik bewirkt. Sondern die Gemeinschaft, die durch sie gestiftet wurde.

RONDO: Bei politischen Vorstößen von Musikern hört man als Gegenreaktion oft den Satz: „Redet nicht! Schafft!“ Richtige Forderung?

Say: Schon. Wir Künstler sind nicht zum Reden da. Warum nicht? Weil wir es nicht gut können. Hinzu kommt: Reden ist ein bisschen vergänglich. Ich kritisiere in den social media gern meine eigenen Konzerte. Wie schlecht der Flügel war, wie schlecht ich selber. Ich mache es eben deswegen, weil ich es für vergänglich halte. Es darf nicht nur vorübergehen. Es soll.

RONDO: Das Urteil in der Türkei, wo Sie wegen Blasphemie im Internet angeklagt waren, ist inzwischen aufgehoben. Sind Sie heute politisch vorsichtiger geworden?

Say: Ideologisch, glaube ich, bin ich unverändert. Im Glauben ebenso. Ich bleibe ungläubig. Es waren ermüdende, unfaire Jahre, in denen ich mich politisch benutzt fühlte. Ich hätte, ehrlich gesagt, Besseres verdient.

RONDO: Sehen Sie Ihre türkische Heimat heute anders?

Say: Die Türkei ist die Türkei. Ich finde, die Europäer können sie teilweise nicht leicht verstehen, etwa beim Syrien-Konflikt. In der Türkei fragt man sich mit Recht, was die USA ihrerseits in Syrien tun. Wir sind Nato-Partner. Deutschland hat die Fähigkeit, politische Verhältnisse differenziert zu betrachten. Meine Kritik an Europa lautet: Einfache Vorurteile sind immer falsch. Ich stehe niemals einseitig auf Seiten der Türkei. Doch ich verstehe die Frage: ‚Was macht Amerika hier?!‘ Ich halte sie für richtig.

RONDO: Es gibt Ereignisse im Leben, durch die man sozusagen ‚gezeichnet‘ ist. Gehört der Prozess dazu?

Say: Ja. Ich hatte Angst. Meine Familie und ich hatten große Sorgen. Man drohte nicht nur. Das Vorgehen war real.

RONDO: Persönlich wirkten Sie lange Zeit wie ein Künstler auf der Überholspur. Wie ein Musiker, der in der Gefahr schwebt, sich zu verbrennen. Hat das Komponieren Ruhe und Struktur in Ihr Leben gebracht?

Say: Auf jeden Fall. Komponieren ist für mich wie Meditieren: ein heilsames Gegenmedikament. Es führt dazu, dass ich überall, wo ich bin, auch komponiere. Ich habe immer ein Heftchen bei mir, in dem ich mir musikalische Einfälle notiere. Und wenn es auch nur ein Holzbläserakkord wäre. Das geschieht beim Fliegen, im Zug, Hotel oder in der Hotellobby. Wird später abgeschrieben. Der Stress, den ich ansonsten haben mag, fällt von mir ab. Ich komponiere grundsätzlich auf Papier. Der Unterschied: Konzertauftritte, wenn sie misslingen, kann ich nicht mehr zerreißen. Notenpapier schon.

RONDO: Wie fühlt es sich an, etwas Eigenes aufzuführen?

Say: Ideal. Ich verliere die Angst vorm Fehler. Es gibt keine falschen Töne mehr. Im Notfall kann ich doch einfach sagen: ‚Ich habe es noch geändert.‘ Bei Beethovens op. 111 kommen Sie mit 25 falschen Tönen nicht durch. Bei mir schon. Nur dann allerdings, wenn ich selber spiele.

RONDO: Alkohol und Zigaretten, so haben Sie einmal gesagt, sind „Freunde“ des Künstlers, wenn er einsam in seinem Hotelzimmer sitzt. Immer noch?

Say: Ja, ich würde das immer noch sagen. Natürlich ist es nicht gut. Ich trinke zwei Gläser Whisky am Abend, das beruhigt mich. Und zum Abendessen Rotwein. Auch rauche ich bereits seit 25 Jahren. Ich bin selber ein treuer Freund.

Meinungsfreiheit

Fazıl Say, geboren 1970 in Ankara, gehört zu den bekanntesten Pianisten der Gegenwart. Seit 1987 studierte er (auf Empfehlung von Aribert Reimann) in Düsseldorf und Berlin. Er ist auch als Komponist sehr erfolgreich, zum Beispiel mit seinen „Gezi-Park“-Werken und dem Violinkonzert „1001 Nights in the Harem“. 2012 wurde er in der Türkei hart angegriffen, nachdem er sich angeblich respektlos über den Koran geäußert hatte. Im Jahr 2013 wurde er zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Das Urteil wurde 2015 vom Kassationshof, einem der obersten Gerichte der Türkei, wieder aufgehoben mit dem Argument, Says Äußerungen seien durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt.

Robert Fraunholzer, 15.02.2020, RONDO Ausgabe 1 / 2020



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