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N° 1354
20. - 28.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Roland Halbe

Andermatt

Luxus-Kurven mit Geröll

Im schweizerischen Andermatt steht der neueste Konzertsaal des Landes. Er lockt mit Stars und Hotels der Sonderklasse.

Man winkt von draußen. Und der Star- Pianist, in diesem Fall der fulminante Benjamin Grosvenor, winkt zurück, obwohl er innen im Saal auf der Bühne sitzt. Nanu. Das geht nur, weil es sich bei dem im Juni von den Berliner Philharmonikern eröffneten Konzertsaal im schweizerischen Andermatt um den wohl einzigen Saal der Welt handelt, bei dem man, von draußen reinschauend, direkt auf den konzertierenden Solisten hinabblickt. Ein Ticket ist dafür nicht vonnöten.
Die Erklärung: Eine Decke des unterirdisch geplanten Kongresszentrums war schon zementiert, als dem Investor und ortsansässigen Milliardär Samih Sawiris eine Idee kam. Er wollte doch lieber einen Orchestersaal haben. Also wurde der Deckel wieder aufgestemmt, eine elegant auskragende Glasgalerie aufgesetzt. Und schon hat der Kanton Uri, nördlich vom Tessin, einen erstrangigen Konzertsaal zu bieten, in dem es sogar Tageslicht gibt.
Zum Abschluss des (von Maximilian Fane klug programmierten) Herbst Festivals dirigierte soeben Daniel Harding das Chamber Orchestra of Europe; welches übrigens im Begriffe steht, in London Brexit-halber die Segel zu streichen und ins hessische Kronberg umzuziehen. Die venezolanische Pianistin Gabriela Montero bezieht im Improvisationsteil ihres Klavierabends Jodel-Vorschläge des Publikums mit ein (wobei sie ordentlich Tangohüften schwenkt). Außerdem sind Raphael Christ, Jens Peter Maintz und Raphael Sachs vom verpartnerten Lucerne Festival herübergekommen. Man hört Werke, die man sonst nie hört. Zum Beispiel das einsätzige Klavierquartett von Gustav Mahler.
Es sind Dinge und Erlebnisse, die in Metropolen nie vorkommen. Und das reflektiert den einzigartigen Rang des Ortes. Um die Ecke, in Geh-Nähe des in einem Luxushotel untergebrachten Konzertsaals, liegt die berühmteste Schlucht der Schweiz: die Schöllenen. Besungen von Goethe, gemalt von William Turner! Pittoresk beugt sich die „Teufelsbrücke“ über einen Abgrund. Napoleon wurde hier besiegt. Man schlüpfe, so empfehlen wir, kurz durch das „Urnerloch“, wenn man vom Hotel kommt. Schon ist man da. Das Tal, in dem Andermatt liegt, war im 19. Jahrhundert so legendär, dass Königin Victoria hier urlaubte (im damaligen Hotel Bellevue, dort wo heute das superiore Wahrzeichen des Ortes steht, das Resort „The Chedi Andermatt“).

Fast wie in Schottland

Näher betrachtet, handelt es sich beim Hochtal des St. Gotthard- Massivs um die wohl schönste Existenzialisten-Ecke der Schweiz. Karg begrünte, sacht ansteigende Felslandschaften, die beinahe an die schottischen Highlands erinnern. Der grün-bläulich bemooste Granit macht einen vornehm edelbeschimmelten Eindruck. Einzigartig! Die Skisaison dauert hier sieben Monate lang. Ende Oktober begrüßt die Bevölkerung den Schnee mit einem kostümierten Umzug. Als sei’s eine historische „Wilhelm Tell“-Aufführung.
Die Region diente einmal als Militärstützpunkt. Der ganze Gotthard ist von Stollen durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Als die Truppen größtenteils abgezogen wurden, erwirkte man klug eine Ausnahmeregelung von der schweizweit gültigen Investitions- Obergrenze. Eine Boomtown für Immobilienkäufer und Kultur entstand. Neu gebaut wird derzeit ein ganzer Ortsteil im 1600-Seelen- Tal. Neben Golf, Wandern, Klettern und Ski legt man auf Musik größten Wert. Im Frühjahr betreut der ehemalige Wiener Philharmoniker- Vorstand Clemens Hellsberg ein Nachwuchsfestival.
Hellsberg kann nun nicht nur in der Kirche, sondern auch im neuen Konzertsaal planen. Mit 700 Plätzen ist der so groß, aber auch so klein, dass gelegentlich hallverstärkt wird. Ein Trick, mit dem andere Veranstalter diskreter umgehen würden. So ängstlich ist man hier nicht! Das Chamber Orchestra of Europe, obwohl an Saalwechsel gewöhnt, tönt fast zu laut – und jedenfalls derber als die Berliner Philharmoniker, die, so hört man, sensibler mit den akustischen Gegebenheiten umgingen.
Wie bei anderen Schweizer Festivals (in Gstaad oder Verbier) besteht der Reiz Andermatts in der Fußläufigkeit und im nachbarschaftlichen Charakter. Die Star- Musiker sind unter uns. Sie bevölkern dieselben Lounges, sonnen sich neben uns, benutzen dasselbe Schwimmbad. Zwei Stunden südlich von Zürich bildet der lichte Winkel, unweit des Rhône- Gletschers und mit Matterhorn- Bahn, eine der endzeitlichsten, reizvollsten Gebirgs-Ecken der Schweiz. Wer nur an liebliche Toblerone- Landschaften denkt, liegt falsch. Gerade Klassik-Freunden wird die Beckett-Schrundigkeit zusagen und gefallen. Zur Winter- Ausgabe des Festivals wird demnächst Daniel Barenboim erwartet (am 15.1.). Mit Beethoven-Geröll.

Schussfahrt

Im „Young Artists Concert“ am 4.12. spielen Fabiola Tedesco (Violine), Martina Santarone (Viola) und Erica Piccotti (Cello) in der Andermatt Concert Hall (im Radisson Blu Hotel Reussen) Streichtrios von Haydn, Beethoven und Schubert. Im Januar folgen Beethoven-Sonaten, gespielt von Daniel Barenboim (15.1.) und Beethovens Sinfonie Nr. 4 samt Violinkonzert mit den English Classical Players unter Jonathan Brett (Solistin: Nikita Boriso-Glebsky, 16.1.). Tags drauf folgen Sinfonie Nr. 3 und Klavierkonzert Nr. 3 (Solist: Yoon-Jee Kim, 17.1.). Den Schluss bildet Sinfonie Nr. 5 und die Konzertarie „Ah! perfido“ (mit Anush Hovhannisyan, Sopran, 18.1.).

Robert Fraunholzer, 30.11.2019, RONDO Ausgabe 6 / 2019



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