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N° 1354
20. - 26.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Franz Liszt zum 200. Geburtstag

Der Wille zur Selbstvervollkommnung

Als Künstlerpersönlichkeit ist Liszt unserer Zeit fremd geworden. Warum hat man seine Musik so hysterisch bejubelt, während sie heute die meisten Hörer bis auf ein paar Ausnahmen einigermaßen unbeteiligt lässt? Überhaupt befremdet dieses überladene Leben, so unfasslich bewegt, nach außen gewandt und angefüllt. Zum 200. Geburtstag erklärt Matthias Kornemann, warum wir in Liszt den »Popstar« vergeblich suchen, und wie wir stattdessen einen der bildungshungrigsten Komponisten des 19. Jahrhunderts neu für uns entdecken könnten.

Liszt, dieser Heros des 19. Jahrhunderts, will sich nicht zwischen zwei Buchdeckel pressen lassen. Da sie an der Fülle scheitert, rettet sich die Geschichtsschreibung ins romantisch-episodische Genre; die Autoren greifen sich heraus, was ihnen gefällt oder der Zeitgeist verlangt. Das kann gutgehen, häufiger aber geht es schief. Die erbärmlichste aller Verengungen des Blicks jedoch ist allgegenwärtig: die Erhebung Liszts zum »Popstar« avant la lettre. Hier formt sich eine verzwergt-bildungsvergessene Gegenwart den Helden nach ihrem Bilde.
Wer wollte es leugnen: Kein Musiker vor ihm machte seine Zeit so sehr zum staunenden Zeugen seiner Verschränkung von Kunst und Leben. In einem Jahrhundert, in dem man Passbilder noch nicht kannte, fand sich in den Reisedokumenten gewöhnlich eine Personenbeschreibung. Bei Franz Liszt aber stand lediglich »Celebritate sua sat notus« – durch seine Berühmtheit hinreichend bekannt. Es war eine heikle, eine superlativische Berühmtheit. Als Klaviervirtuose löste er Publikumshysterien aus, sprengte die Holzrahmen herkömmlicher Flügel, auf die gesellschaftlichen Konventionen nahm er als Liebhaber kaum mehr Rücksicht. Umhergetrieben durch ganz Europa führte er ein rastloses Wanderleben als Zelebrität unter Zelebritäten, und jede Episode wirkt, als sei sie für die Feder eines Romanciers gestellt. Später dann, in Weimar, wurde er das Zentralgestirn europäischer Musikkultur und der wirkungsmächtigste Klavierpädagoge aller Zeiten. Das ganze 19. Jahrhundert scheint durch dieses Leben und Schaffen paradiert zu sein und darin aufgehoben.
Eine unheimliche Kraft zur Verwandlung und Neuerfindung liegt in dieser Existenz, von der man schon immer sagte, die Welt müsse ihr eine Bühne gewesen sein. Vielleicht war sie ihr aber auch ein Buch oder ein Hörsaal? Das unerhört Theatralische, begnadet Selbstinszenatorische bot dem Meißel der biografischen Zerkleinerer den ersten Angriffspunkt, und wir lesen über seine öffentlichkeitsverliebte Schauspielernatur bis zur Ermüdung. All das ist auch nicht falsch. Aber es beschreibt nur die Außenseite einer ästhetischen Haltung, deren gar nicht so romantische Ganzheit sich unseren Blicken entzieht, weil uns geradezu schwindelig wird von den Lisztschen Metamorphosen. Der Komponist scheint uns die Wahl zu lassen, in welcher Rolle wir ihn haben wollen, auf welcher Bühne, vor welchem Hintergrund. Er gab mit Erfolg den Pseudo-Ungarn, Lord Byrons Wiedergänger, den vor einem Raffael verzückten kunstreligiösen Pilger oder einen mehr als gut aussehenden Don Juan. Ein Elementares verknüpft diese bunte, schier endlose Maskerade: In die äußere Welt krallt sich seine Kunst immer fest. Man findet kaum einen Takt, der nicht Zeugnis davon ablegte, was sein Schöpfer sah oder las. Die Musik aber ahmt nicht nach, sie protokolliert einen Erkenntnisprozess, und als staune sie selbst über einen Fortschritt, wächst Erlebtes oft sehr originell in neue Formen und Gestalten zusammen. Wer das begreifen möchte, kann sich nicht zurücklehnen.
Treten wir mit Liszt in die Neue Sakristei, sehen wir durch seine Augen die Figur Lorenzo II. de Medicis, des unprächtigen Herzogs von Urbino, gemeißelt von Michelangelo, ein schweigendes Rätsel an die Nachwelt, ob dieser Grübler vielleicht Genie verkörpere oder über die Zerstörung einer Stadt nachsinne, wie Hippolyte Taine vermutete. Wie vielschichtig fängt Liszts Satz aus den »Années de pèlerinage« diese brütende Gestalt ein – wenn wir sie denn vor unserem Auge haben. Sonst ist Liszts Genie vergeudet und der »Penseroso« nicht mehr als ein verschattetes Klavierstück. So müssen wir uns auf Liszts Spuren machen, wollen wir wirklich teilhaben an seinem Empfinden. Wenn er uns dann oberflächlich vorkommt, haben wir uns dieses Urteil immerhin redlich erarbeitet. Aber mit unserem Bemühen sinkt diese Gefahr.
Dann aber erkennt man, warum es so erbärmlich ist, in Liszt einen »Popstar« haben zu wollen. Die Populärkultur will uns die Fragen nach den verborgenen Dingen ersparen. Wer Liszt populär nennt, höhlt ihn aus und leugnet das unermessliche Geflecht der Bezüge in seiner Kunst. Ebenso beleidigt man die Gesellschaftsdamen, die er zur Raserei brachte. Es waren elitäre Rasereien, eingewoben in die kulturellen Codes einer Oberschicht. Diese Tatsache wird bei den notorischen Berichten über Mänaden auf Devotionalienjagd gerne übergangen. Nur wer den »Faust« kannte – und zwar den von Lenau! – wusste um die Szene in der »Dorfschänke«. Nur wer die subtilen Handlungsverästelungen des »Don Giovanni« in seinem Bewusstsein parat hatte, konnte die geniale Themenmontage Liszts goutieren, mit der er sich zum Herrn der Mozartschen Figurenwelt und zum leibhaftigen Verführer seines Publikums aufschwang. Und so kann man in Liszts Themenkatalog weiterblättern. Wer ist »Oberman«, in dessen Tal er sich verliert? Welche Gesänge inspirierten die »Dante-Sonate«? »Les préludes« – Vorspiele wozu?, könnte man auch hier mit Gide fragen, aber während seine Frage bei Chopin absichtsvoll-rhetorisch ins Leere zielte, träfe sie hier auf einen literarischen Paten. Lesen Sie Lamartine, würde Liszt uns raten. Die damaligen kannten ihn vermutlich, wir nicht. Das ist die unbehagliche Wahrheit, die wir gerne wegwischen würden.
Das stehende »Programm« dieser Programmmusik ist das Protokoll einer intellektuellen Selbstvervollkommnung, feurig und eruptiv auf die Bühne gestellt und nach dauernder Bestätigung heischend: »Hört, was ich erworben, lesend und reisend verschlungen habe und für Euch ins Riesenmosaik der Empfindungskultur des 19. Jahrhunderts einpasse!« Liszt komponierte einen langen Bildungsweg im neuhumanistischen Geist, auf dem er sich selbst zum Kunstwerk formte und zugleich beflissen den bildungsbürgerlichen Kanon von Dante bis Goethe abarbeitete. Man kann das eitel, anmaßend oder naiv finden. Vielleicht zeugte es auch von der inneren Unsicherheit des Jungen aus Raiding. Aber wir haben nicht das geringste Recht, an der Ernsthaftigkeit dieses Strebens zu zweifeln. Allerdings, und da liegt das tiefe Problem, erzählt Liszt seinen Bildungsroman gelegentlich mit schillernd-fragwürdigen Mitteln, mit jenen triumphal ausladenden Gesten des Bühnensiegers, die uns Spätlinge immer etwas misstrauisch machen. Ist es nicht doch hohles Spiel? Blendet da einer bloß, spielt den Byronschen Weltschmerz nur vor, ist nur religiös der ästhetischen Attitüde, ungarisch nur der Verkleidung wegen? Dieser Verdacht ist unsere Sünde wider diesen sympathischsten aller Großen. Dass es aber jenen magischen Prozess geben könnte, der ein reiches, lauteres inneres Kunstempfinden in eine flammende, weitausholend großspurige Äußerlichkeit verwandelt, die ebenso wahrhaftig ist – das glauben wir Liszt nicht mehr. Wäre es nicht eine schöne geburtstägliche Reverenz, wir folgten einem wirklich großen Interpreten und versuchten es wenigstens?

Matthias Kornemann, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 5 / 2011



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