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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Gaëtan Bally

Paavo Järvi

Bloß kein Allzweckklang

Der Dirigent tritt sein Amt als Chef des Tonhalle- Orchesters in Zürich an, mit einem nordisch gestimmten Programm.

Bei Antrittskonzerten neuer Chefdirigenten geht es meist groß, feierlich und repräsentativ zu. Kirill Petrenko etwa setzte neulich demonstrativ Beethovens „Neunte“ aufs Programm seines ersten Konzerts als Chef der Berliner Philharmoniker. In der Zürcher Tonhalle Maag aber flirren zu Paavo Järvis Einstand zarte, minimalistische und sehr intime Klänge durch den Saal. Der estnische Komponist Arvo Pärt hat sein kurzes Werk von 1976 mit dem ironischen Titel „Wenn Bach Bienen gezüchtet hätte …“ eigens für das Zürcher Konzert neu überarbeitet und sitzt selbst im Saal.
Das Konzert hat keine Pause, auf Pärt folgt „Kullervo“ von Jean Sibelius für Singstimmen, Männerchor und Orchester. Beide Werke findet man äußerst selten auf den Spielplänen. Järvi will sich mit diesem mutigen Programm klar positionieren: „Bis zu einem gewissen Grad war es ein Statement, denn es war Musik aus der Region, aus der ich komme. Es gab mir auch die Möglichkeit, dem Publikum Arvo Pärt vorzustellen, sogar persönlich. Und es war für mich auch eine Möglichkeit, einen starken Akzent auf den Norden zu setzen. Aber das heißt nicht, dass jetzt jedes Programm so sein wird. Es wird eine große Vielfalt geben. Grundsätzlich ist das der Schlüssel.“
Das Tonhalle-Orchester Zürich kannte Järvi bereits von einer ausgedehnten China- Tour und einem Konzert in Zürich. „Der Streicherklang dieses Orchesters hat dieses deutsche Legato, diese Art von ‚Sostenuto’-Tradition, die heutzutage zunehmend eine Kunst ist, die zu verschwinden droht. Im Grunde ist es ja so, dass inzwischen die Qualität, die heute in der ganzen Welt am höchsten geschätzt wird, Effizienz ist. Alles muss so schnell wie möglich zusammenkommen und mehr oder weniger gut klingen. Das aber war für mich noch nie attraktiv. Ich will keinen Allzweck-Klang produzieren. Dieses Orchester hat immer noch einen Alte- Welt-Klang, diesen tiefen, reichen Streicher- Klang und die Art, eben sostenuto zu spielen. Das ist für mich unglaublich wichtig.“
Paavo Järvi ist ein Dirigent, der auf dem Podium nicht herumwirbelt, sondern eher nüchtern wirkt und mit kompakten Gesten kommuniziert. Das Verständnis zwischen ihm und dem Orchester scheint jetzt schon nahezu perfekt zu sein. „Sie spielen zusammen, aber zusammen in einem tieferen Sinn, nicht nur so zusagen vertikal. In einem inneren Sinn. Und das ist etwas, das wirklich eine Rarität ist.“

Der Traumkandidat

Ilona Schmiel ist seit fünf Jahren Intendantin der Zürcher Tonhalle. Mit ihr begann damals – als Nachfolger des langjährigen Chefdirigenten David Zinman – der erst 26-jährige Franzose Lionel Bringuier, der aber glücklos waltete und nach nur vier Jahren Zürich wieder verließ. Und dann zauberte Schmiel Paavo Järvi aus dem Hut. Järvi war schon immer Schmiels Traumkandidat: „Ich glaube, dass Höchstleistung auf der Bühne dann entsteht, wenn es genauso auch eine Höchstleistung im Management- Team gibt. Und auf der Leitungsebene muss es ein Teamwork sein. Es ist ja ein ständiger Dialog. Und da stimmt einfach die Chemie, wir ticken beide gleich.“
Die Zürcher Musikliebhaber gelten allgemein als eher konservatives Publikum. Paavo Järvi sieht darin eine Herausforderung. „Ja, bis zu einem gewissen Grad ist es ein konservatives Publikum. Aber auch ein forderndes. Das heißt, sie wissen, was sie hören wollen. Und einer der Gründe, warum ich mit so einem ziemlich ungewöhnlichen Programm gestartet bin, war, sie sanft zu öffnen für Dinge, die sie gerne hören könnten, das aber noch nicht wissen.“ Paavo Järvi hat keine Angst vor Experimenten und will natürlich auch jüngeres Publikum in die Konzerte ziehen. Aber nicht um jeden Preis. „Das alles hängt ab von der Energie und Spannung, die auf der Bühne passiert. Ich gehöre nicht zu den großen Jüngern dieses oberflächlichen: Lass uns etwas Lustiges machen, dann kommen die jungen Leute. Wir können es auch nicht jedem recht machen. Aber ich denke, wenn hier wirklich etwas Spannendes passiert, sind wir attraktiv. Nicht unbedingt nur für jüngere Leute, sondern für neues Publikum! Es gibt auch viele Leute im mittleren Alter, die noch nicht kommen. Also, das Ziel sollte sein, neue Leute zu erreichen.“
Paavo Järvi hat mit der Bremer Kammerphilharmonie wegweisende Aufnahmen vorgelegt, in denen er Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis auf moderne Instrumente übertrug. Diese Auffassung hat auch beim Tonhalle- Orchester Zürich Tradition, was Ilona Schmiel darin bestärkte, unbedingt Paavo Järvi nach Zürich zu holen: „Dieses Orchester ist tatsächlich geprägt durch die lange Chefdirigentenzeit mit David Zinman, der den Beethoven- Klang entschlackt hat. Eine Lesart, die mit historisch informierter Aufführungspraxis auf modernem Instrumentarium für Furore sorgte. Ich kenne Paavo Järvi aus der Bremer-Kammerphilharmonie- Zeit, wo er einen ähnlichen Ansatz verfolgt und habe ihn als Intendantin des Bonner Beethovenfests immer wieder eingeladen. Ich bin mir sicher, dass diese Lesart, die er für Kammerorchester entwickelt hat, jetzt auf das große Orchester übertragbar ist.“

Neu erschienen:

Olivier Messiaen

„L’Ascension“ für Orchester, „Le tombeau resplendissant“, „Les offrandes oubliées“, „Un sourire“

Paavo Järvi, Tonhalle-Orchester Zürich

Alpha/Note 1

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Rhythmus im Blut

Paavo Järvi zählt derzeit zu den begehrtesten Pult-Stars seiner Generation. Einer estnischen Musiker-Dynastie entstammend – Vater Neeme und Bruder Cristian sind ebenfalls Dirigenten – studierte er Schlagzeug und Dirigieren und spielte zwischendurch auch in einer Rockband. Die Familie verließ früh die damalige Sowjetunion und siedelte über in die USA. Nach ersten Stationen in Stockholm und Cincinnati übernahm Järvi 2004 die Leitung der Kammerphilharmonie Bremen, die er bis heute innehat; er war Chefdirigent des hr Sinfonieorchesters und des Orchestre de Paris. Ebenfalls noch heute ist er Chef des NHK Sinfonieorchesters Tokio und seit Oktober nun auch des Tonhalle-Orchesters Zürich.

Regine Müller, 30.11.2019, RONDO Ausgabe 6 / 2019



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