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N° 1354
20. - 28.04.2024

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am 27.04.2024



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(c) Yngve Olsen/Arctic Philharmonic

Norwegen

Der Mythos des nordischen Klangs

Die Musikkultur des skandinavischen Landes ist grundiert von traditioneller Volksmusik – und zugleich in allen Genres international.

Zum Spitzenplatz Norwegens im „World Happyness Report“ trägt sicher auch bei, dass es als eines der flächengrößten Länder Europas mit 5,3 Mio. Einwohnern nur dünn besiedelt ist. Es gibt viel unberührte Natur. Und viel Kultur. Neben Design und Architektur floriert in Norwegen vor allem das Musikleben und ist finanziell bestens ausgestattet. Denn Norwegen ist ein reiches Land mit hohem durchschnittlichem Lebensstandard und einem der besten Sozialsysteme der Welt. Wie seine skandinavischen Nachbarländer hat Norwegen nach dem Zweiten Weltkrieg viel Geld in Kultur investiert, und die Ölvorkommen, die Fisch- und die Offshore- Industrie garantieren weiterhin Stabilität.
In der internationalen Musikwelt machte Norwegen eigentlich erst im 19. Jahrhundert von sich reden: Der Geigenvirtuose Ole Bull tourte als „nordischer Paganini“ durch ganz Europa und führte die traditionelle Hardangerfiedel in die Konzertsäle ein. Zeitgleich arbeitete eine Reihe von norwegischen Komponisten, von denen Edvard Grieg der folgenreichste war, an der norwegischen Spielart der Romantik. Seine Schauspielmusik zu „Peer Gynt“ ist mit der „Morgenstimmung“ und der „Halle des Bergkönigs“ ein Wunschkonzert-Hit. Und tatsächlich war er bereits Ende des 19. Jahrhunderts einer der meist gespielten Komponisten Europas, reiste viel als Pianist und Dirigent und sah sich selbst eher als Kosmopolit. Zumal er – wie viele seiner norwegischen Komponisten- Kollegen – am Leipziger Konservatorium studiert hatte und stark unter dem Einfluss der deutschen Romantik stand. Dennoch gilt Grieg in Norwegen als Nationalheld, sein Landhaus „Troldhaugen“ in der Nähe von Bergen ist Kult.
Heute ist Norwegen in der internationalen Klassikszene vor allem solistisch vertreten, etwa durch die Geigerinnen Vilde Frang und Eldbjørg Hemsing oder den Pianisten Leif Ove Andsnes; außerdem genießen sein institutionalisiertes Musikleben und die vielen hochkarätigen Festivals höchstes Ansehen. So lockt in der alten Hauptstadt Bergen alljährlich Ende Mai das Bergen Festival mit einem breit gefächerten und betont experimentellen Programm zwischen Performance, Theater, Musik und Bildender Kunst. Daneben lockt auch das Hardanger Musikkfest (5. bis 10. Juni, immer am Pfingstwochenende) mit 29 Konzerten, die ein vielfältiges Programm mit einem Fokus auf klassischer und Volksmusik bieten; die einzigartige Landschaft am Hardangerfjord ist dafür eine dramatische Kulisse. Ebenso bedeutend und legendär ist das Peer Gynt Festival im Gulbrandsdalen, einem eine knappe Autostunde nördlich von Lillehammer gelegenen Tal (2. bis 11. August). Auch hier spielt die Gebirgslandschaft eine gewichtige Rolle bei der Atmosphäre der 35 Veranstaltungen, die in einer groß angelegten Theateraufführung von „Peer Gynt“ in Gålå gipfeln.
Das ganze Jahr über wird in der Festivalstadt Bergen auch Oper gespielt. Das Bergen Philharmonic Orchestra, bereits 1765 gegründet, zählt zu den ältesten Orchestern der Welt und wurde unter anderem auch vom gebürtigen Bergener Edvard Grieg höchstpersönlich geleitet.

Waschechte Nordlichter

Noch ein waschechter Bergener ist Pianist Leif Ove Andsnes, seine internationale Karriere begann 1989, er konzertiert weltweit mit den wichtigsten Orchestern, auch ein famoser Kammermusiker und für seine hellsichtigen Beethoven- und kristallklaren Chopin-Interpretationen bekannt. Inzwischen greift er auch selbst öfter zum Taktstock. Nach wie vor aber lebt er in Bergen, sein Wohnhaus liegt hoch über der Stadt und ist bisweilen Spielort intimer Hauskonzerte des Bergen Festivals.
In der heutigen Hauptstadt Oslo thront unübersehbar das spektakuläre Opernhaus aus Beton, Marmor, Glas und Holz wie ein gigantischer Eisberg im Wasser. Seit seiner Eröffnung 2008 gilt das Gebäude als beispielgebend für einen modernen, multifunktionalen Theaterbau, der bis hinauf auf das hoch aufragende Dach begehbar ist. Programmatisch bietet das Haus, das an den internationalen Koproduktions- Zirkel angeschlossen ist, überdurchschnittliche Kost, doch schon allein die kühne Architektur lohnt den Besuch.
Sehr rege ist in der Hauptstadt auch das Oslo Philharmonic Orchestra, 1919 gegründet, das an die 70 Konzerte pro Saison allein in Oslo absolviert und darüber hinaus unter der Leitung seines Chefdirigenten Vasily Petrenko auch weltweit tourt.
Und selbst hoch oben in der Arktis trotzt ein ausgeprägtes Musikleben den strengen Temperaturen: Das Arctic Philharmonic ist sowohl in Tromsø als auch in Bodø äußerst präsent, erst kürzlich spielte die zum Shooting- Star gehypte Geigerin Eldbjørg Hemsing mit dem Klangkörper Hjalmar Borgstrøms vergessenes Violinkonzert ein und ging damit auf Tour. Borgstrøm ist ein typischer Fall jener norwegischen Komponistengeneration der Grieg-Zeit: Auch der in Oslo geborene Komponist ging mit 23 Jahren nach Leipzig, um am dortigen Konservatorium zu studieren. Dort sog er die zentraleuropäische Musiktradition in sich auf, doch zurück in Norwegen wollte seine nun durch die westliche Tradition geprägte Musik dort nicht mehr recht zünden. Den Norwegern klang er zu westlich, und in Mitteleuropa wurde er vergessen – hier gilt er als typisch nordisch.
Höchst lebendig und weithin ausstrahlend ist in Norwegen auch die Jazz-Szene, ganz zu schweigen vom reichen Pop- und Rock-Angebot mit vielen heimischen Labels und einer Fülle von sommerlichen Open-Air-Festivals. Aus den Vertretern des norwegischen Jazz ragen unter anderem der Trompeter und Musikproduzent Nils Petter Molvær heraus, der den Jazz mit elektronischer Musik zu verschleierten, atmosphärischen Klängen kurzschließt und sich auf so unterschiedliche Vorbilder wie Miles Davis und Brian Eno beruft. Der Pianist Bugge Wesseltoft ist ebenfalls längst ein internationaler Jazz-Star, der als Punker begann und dann mit Nils Petter Molvær ein Jazz- Quartett gründete. Auch Wesseltoft bereichert den klassischen Jazz mit elektronischer Musik und betreibt unter der Firmierung New Conception Of Jazz eine Synthese aus Live-Elektronik und improvisiertem Jazz. Der dienstälteste und berühmteste der norwegischen Jazz-Stars aber ist Jan Garbarek, der vor allem durch sein magisches Saxofonspiel berühmt wurde, zuweilen auch Synthesizer und Flöten bedient. Garbarek zählt ohne Zweifel zu den einflussreichsten Jazzmusikern Europas und ist mit seinem glasklaren Saxofonton zu einer Art „Edvard Grieg des Jazz“ geworden – ein exemplarischer Vertreter, sozusagen der Prototyp des skandinavischen Jazz. Dabei ist Garbarek der Sohn eines polnischen Kriegsgefangenen, war als Musiker Autodidakt und gibt als prägenden Einfluss John Coltrane an, den er im Radio hörte. Norwegen, das ist ein Gefühl aus Weite und Klarheit, in das man offenbar mit der Zeit hineinfinden kann.

www.visitnorway.de/aktivitaten/kunst-und-kultur/

Die Hotspots des kühlen Nordens

Mehr als 200 Festivals aller Genres finden zwischen Mai und September in Norwegen statt, trotz labiler Wetterlage tummeln sich vor allem viele der Rockund Pop-Festivals unter freiem Himmel. Nicht weniger als sieben ausgewachsene Sinfonieorchester leistet sich das Land, daneben zahlreiche Kammer- und Spezialisten-Ensembles, fünf Opern-Betriebe und fünf klassische Konzerthäuser, wobei hier die vielen Kulturhäuser und multifunktionalen Spielstätten, an denen auch Konzerte stattfinden, nicht mit eingerechnet sind. Drei größere Musikhochschulen in Oslo, Trondheim und Bergen, sowie einige kleinere in Stavanger, Kristiansand und Tromsø sorgen für den musikalischen Nachwuchs.

Regine Müller, 01.06.2019, RONDO Ausgabe 3 / 2019



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