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N° 1353
13. - 24.04.2024

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am 20.04.2024



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(c) Ray Burmiston

Lise Davidsen

Ungeheure Kräfte

Schon jetzt lässt die Norwegerin Lise Davidsen ahnen, welches Potenzial in ihrer Stimme liegt – nachzuhören auf ihrem Soloalbum.

Wie kommt man auf schnellstem Wege nach Bayreuth? Wer’s wissen will, sollte sich an Lise Davidsen halten. Kaum vier Jahre ist es her, dass die Norwegerin ihre ersten unauslöschlichen Spuren auf internationalem Opernparkett hinterlassen hat. In einer Folge spektakulärer Wettbewerbs-Siege, u. a. bei Plácido Domingos Operalia Competition in London und dem Osloer Königin-Sonja-Wettbewerb, sang sie eine internationale Konkurrenz glatt gegen die Wand, machte Publikum und Jury stumm vor Staunen. Ihre Stimme: eine hochdramatische Naturgewalt, die nach Strauss und Wagner lechzt; ein unerschütterliches Organ, angetrieben von ungeheuren Kräften. Sie unter Kontrolle zu halten, so Lise Davidsen selbst, sei fast die schwierigste Herausforderung ihres Sängerinnenalltags.
Eine große Stimme verlangt nach großen Bühnen. Nach den spektakulären Wettbewerbssiegen öffneten die sich ihr von selbst, bald sang die knapp 30-Jährige in Glyndebourne, Zürich, Wien, London, Aix-en-Provence und München. Ein weiteres spektakuläres Debüt steht in wenigen Wochen bevor: Wenn sich am 25. Juli erstmals der Vorhang über Tobias Kratzers neuer Bayreuther „Tannhäuser“- Inszenierung hebt, wird Lise Davidsen als Elisabeth auf der Festspielhaus-Bühne stehen. Der Ritterschlag für jede Wagner-Sängerin. „Die Situation ist wirklich seltsam“, sagt Lise Davidsen. „Ich war noch nie zuvor in meinem Leben in Bayreuth. Beim Vorsingen habe ich das Festspielhaus zum allerersten Mal gesehen. Ich stehe dort auf der Bühne, noch bevor ich Gelegenheit hatte, mir eine Vorstellung als Zuschauerin anzusehen.“ Immerhin konnte sie sich schon mit den seltsamen, aber akustisch notwendigen Klimatisierungsbedingungen vor Ort vertraut machen – und die Wirkung ihrer Stimme im (allerdings unbesetzten) Auditorium austesten.
Die übliche Hiobsbotschaft vorweg: Auch dieses Jahr wird es nur wenigen vergönnt sein, live in Bayreuth mit dabei zu sein. Die gute Nachricht: Trotzdem muss niemand auf Lise Davidsen als Elisabeth verzichten. Zumindest die Highlights dieser Partie, „Hallen-Arie“ und „Gebet“, hat sie für ihr Debüt-Album im Studio eingesungen. Unterstützt wird sie dabei vom Philharmonia Orchestra unter Esa- Pekka Salonen, einem weiteren großen Musiker des Nordens.

Kleeblatt der Supersoprane

Eine Stimme von solchem Format und mit solchem Volumen auf CD zu bannen, ist keine leichte Aufgabe. Daran verzweifelten schon Tontechniker früherer Zeiten, als es darum ging, das schwere Geschütz einer anderen Sängerin für die Ewigkeit zu konservieren: Die Rede ist von der schwedischen Wagner-Ikone Birgit Nilsson (1918 – 2005), die jetzt bereits als Vergleichsmaßstab für Lise Davidsen herangezogen wird. Ein weiterer Name, der in diesem Kontext immer wieder zu hören ist, ist der der Norwegerin Kirsten Flagstad (1895 – 1962). Mit ihr wäre das skandinavische Damen-Kleeblatt der Supersoprane perfekt. Aber: Belasten solche Vergleiche nicht auch, vor allem, wenn man noch am Anfang seiner Karriere steht?
„Natürlich schmeichelt es mir. Die beiden waren Legenden!“, sagt Lise Davidsen. „Aber ich sehe das ganz entspannt. Ich bin ich, und meine Stimme geht ihren eigenen Weg. Es kann sein, dass wir Skandinavierinnen durch unsere Konstitution und unsere Sprache besondere stimmliche Voraussetzungen mitbringen“, sagt die Sängerin, die die meisten ihrer männlichen Sängerkollegen auf der Bühne nicht nur stimmlich, sondern auch in puncto Körpergröße überragt. Auf jeden Fall gibt es in ihrem Repertoire viele Überschneidungen mit dem der beiden großen Diven. Wer möchte, kann etwa Lise Davidsens Einspielung der „Vier letzten Lieder“ mit der historischen Aufnahme von Flagstad und Wilhelm Furtwängler von 1950 (der ersten überhaupt) vergleichen. Eine interessante Erfahrung: hier die reife, mit allen Bühnenwassern gewaschene Sängerin am Ende ihrer Karriere, dort die junge, brennende Gipfelstürmerin, die selbst voller Neugier darauf wartet, wie sich ihre Stimme in Zukunft entwickeln wird.
Trotzdem muss die Frage erlaubt sein, ob die „Vier letzten Lieder“, die abgesehen von den beiden „Tannhäuser“- Ausschnitten in ein reines Strauss- Programm eingebettet sind, das Richtige sind für ein Debüt-Album. „Warum nicht?“, lautet die Gegenfrage. In der Tat gibt es in der Musik kein Jugendschutzgesetz, das Altersgrenzen für bestimmte Werke vorschreibt. „Ich finde es gerade spannend, diese Lieder, in denen es um Rückblick und Abschied – auch vom Leben – geht, aus einer anderen, weniger befangenen Perspektive zu erzählen“, sagt Lise Davidsen – zumal es ihrer Stimme gerade im unteren Register nicht an Geheimnis fehlt, um Strauss’ Schwanengesang die nötige Tiefe und Weltversunkenheit mit auf den Weg zu geben. „Und wenn ich älter bin, kann ich die ‚Vier letzten Lieder‘ ja nochmal aufnehmen. So kann ich selbst sehen, wie sich meine Sicht auf das Werk und seinen Inhalt verändert hat.“ Dank ihrer kräftigen Stimmkonstitution dürfte sie noch lange Gelegenheit haben, dieser Entwicklung zuzuhören.

Erscheint am 31. Mai:

Wagner & Strauss

Lise Davidsen, Philharmonia Orchestra, Esa-Pekka Salonen

Decca/Universal

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Lise Davidsen

Lise Davidsen (Jahrgang 1987) stammt aus dem südlichen Norwegen und entdeckte das Potenzial ihrer Stimme als Jugendliche eher zufällig beim Gitarren- und Gesangsunterricht. Nach dem Studium in Bergen und Kopenhagen debütierte sie in kleineren Rollen, ehe sie 2015 nach einer Reihe großer Wettbewerbserfolge die internationale Karrierekurve nahm. Eine ihrer derzeitigen Paraderollen ist die Titelpartie in Strauss‘ „Ariadne auf Naxos“, die sie mit großem Erfolg in Glyndebourne, Wien und Aix-en-Provence gesungen hat. Ariadnes Arie „Es gibt ein Reich“ hat Lise Davidsen ebenfalls für ihre Debüt- CD eingesungen.

Stephan Schwarz-Peters, 01.06.2019, RONDO Ausgabe 3 / 2019



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