Verständlicherweise bezahlte man Anfang des 20. Jahrhunderts 100 Pfund Sterling nicht einfach so aus der Portokasse: 100 Pfund – davon konnte damals der kleine Mann ein Jahr lang leben. Kein Wunder, dass sich selbst ein Enrico Caruso zunächst eine Abfuhr holte, als er für eine Aufnahme von zehn Opernarien diese horrende Gage forderte. Doch da gab es ja Fred Gaisberg, seines Zeichens erster klassischer Musikproduzent der Schallplattengeschichte und Angestellter bei dem deutschen Brüderpaar und Label-Gründern Emil und Josef Berliner. Gaisberg zahlte aus eigener Tasche Caruso die gewünschten 100 Pfund – mit einer Wahnsinnsrendite. Die Aufnahmen sollten in den nächsten 20 Jahren sage und schreibe drei Millionen Pfund auf das Konto der 1898 in Hannover gegründeten „Deutsche Grammophon Gesellschaft“ sprudeln lassen.
Es ist nicht überliefert, ob Emil und Josef Berliner ihrem Produzenten einen dicken Bonus für seinen Caruso-Coup gewährten. Aber die in Mailand aufgenommenen Schallplatten markierten den Startschuss für ein Erfolgslabel, das das Image der klassischen Musik wohl wie kein Zweites prägte. Gaisberg lockte in Folge weitere Stars wie Nellie Melba und Adelina Patti vor den Schalltrichter und legte damit den Grundstein für einen Aufnahme- Katalog, der heute in seiner Klasse und Masse konkurrenzlos ist. Zugleich wurden ständig die technischen Aufzeichnungsmöglichkeiten revolutioniert. 1907 konnten erstmals beide Seiten der Schallplatte bespielt werden. Und 1913 sorgte die Deutsche Grammophon für den nächsten Paukenschlag, als man mit Beethovens „Fünfter“ erstmals ein komplettes Orchesterwerk auf gleich vier doppelseitigen Platten herausbrachte.
Seit diesen Pionierzeiten ist in der Firmengeschichte der Deutschen Grammophon viel passiert, künstlerisch wie strukturell. So gehört das Label inzwischen zum Portfolio des medialen Weltkonzerns Universal. Und auch auf die Hör- und Konsumgewohnheiten hat man stets zu reagieren gewusst. Kurz nach der Jahrtausendwende war die DG das erste große Klassik-Label, das seine Aufnahmen direkt über das Internet an Musikliebhaber verkaufte. Die jüngst mit dem Silicon-Valley- Riesen Apple geschlossene Kooperation sichert nicht nur bessere Katalogdaten für klassische Werktitel, sondern verschafft den Aufnahmen in Apples Streaming- Dienst einen eigenen Store, um etwa komplette Opern als „Videoalben“ bereitzustellen.
Dennoch bleibt für alle notwendige Zukunftsplanung der mehrere tausend Titel umfassende Katalog ein dickes Pfund, mit dem die Deutsche Grammophon zu wuchern versteht. Und kein vergleichbares Label hat sich dabei auch optisch so konsequent zur Marke zu formen verstanden. Nachdem man 1948 das bisherige Aushängeschild, den vor einem Grammophon sitzenden Hund, an einen Mitbewerber verkauft hatte, entwarf der deutsche Grafiker Hans Domizlaff jene unverwechselbare Tulpenkrone auf gelber Kartusche, die seitdem die meisten der jährlich rund 120 Neu- und Wiederveröffentlichungen ziert. Dass das musikalische Spektrum dabei längst nicht nur den mitgewachsenen Klassikhörer anspricht, sondern den Bogen zu den jungen Hörern der Classic- Lounge-Generation zu schlagen versteht, spiegeln die Bestseller der letzten Jahre wider. Da findet sich Anna Netrebkos „Romanza“ neben Max Richters „The Blue Notebooks“, und Daniil Trifonovs „Chopin Evocations“ stehen neben Víkingur Ólafssons Philip Glass-Recital. Fred Gaisbergs Investition von 100 Pfund hat sich also ziemlich nachhaltig ausgezahlt.
Eigentlich war Dietrich Fischer-Dieskau bei der DG für Schubert- Gesanggeschichte zuständig. Aber nur bei Tenor Peters Anders läuft es einem bei dieser aufwühlenden „Winterreise“ so heiß und kalt den Rücken runter.
Mit dieser Aufnahme wurde die Alte Musik-Linie „Archiv Produktion“ eingeläutet. Auch wenn Helmut Walcha einer anderen Orgelepoche angehörte, zählen seine Bach-Aufnahmen weiterhin zum Besten.
Zwar ist Fricsay hier nicht mit seinem Radio- Sinfonie-Orchester Berlin zu erleben. Aber auch mit den (heutigen) Hauptstadt-Philharmonikern bot er bei diesem sinfonischen Evergreen Klangschönheit und Intensität in unerreichter Fülle auf.
Ein Opernkrimi, bei dem Inge Borkh in der Titelrolle atemberaubend die Krallen ausfuhr. Und mit der Staatskapelle Dresden ist das Uraufführungsorchester der „Elektra“ in seinem Element.
Beim ersten Studio- Aufeinandertreffen zwischen dem Anti- Blender Richter und dem Hyper-Maestro Karajan funkte es gewaltig – heraus kam eine von der ersten bis zur letzten Note packende Referenzeinspielung.
Man könnte gleichwertig auch Arturo Benedetti Michelangelis Aufnahme von Debussys „Préludes“ benennen – hier wie da ist kaum zu glauben, welch überbordender Farbnuancenreichtum vom italienischen Virtuosen aus den Tasten gezaubert wurde.
Eine nie wieder erreichte Traumpaarung für Mozart. Wie später bei seinen DG-Solo-Aufnahmen der Mozart- Sonaten entpuppte sich Gulda mit Abbado und den Wienern als der Glücksfall eines Klavier-„Sängers“.
Fesselnde Spannungsbögen und irrwitzige Entladungen – einem Tanz auf dem Vulkan kommt die Kulteinspielung der beiden Beethoven-Sinfonien gleich. Um sein Leben spielten da das Dreamteam Carlos Kleiber und die Wiener Philharmoniker.
Die Aufnahme dokumentiert die legendäre Erstaufführung von Alban Bergs unvollendeter „Lulu“ in der von Friedrich Cerha komplettierten Fassung – mit der umwerfenden Teresa Stratas in der Titelrolle.
Musik am Rande der Stille, die zum Hinhören zwingt: Mit Luigi Nonos Streichquartett wurde Mitte der 1980er Jahre ein ganz neues Kapitel der Neuen Musik aufgeschlagen – auch mit dieser Aufnahme des LaSalle Quartet als Widmungsträger.
In dem Live-Mitschnitt von den Salzburger Festspielen machte Anna Netrebko auch gesangstechnisch – etwa mit herrlichen Piani – aus der Partie der „Violetta“ ein packendes, bis heute unerreichtes Seelendrama deluxe.
Im Zuge ihrer Gesamteinspielung aller Schostakowitsch- Sinfonien musizieren der lettische Maestro Andris Nelsons und sein US-Top-5-Orchester aus Boston einmal mehr unter absolutem Starkstrom und in Top-Form.
http://dg120.info
Bei einem 120-jährigen Firmenjubiläum wäre Bescheidenheit fehl am Platze. Daher ist „The Anniversary Edition“ mit 120 CDs prallgefüllt und spannt einen repräsentativen Bogen von der Frühzeit des Labels (Stichwort: Caruso) bis zur Gegenwart (Stichwort: Max Richter). Bis auf die Gesamtaufnahmen von Verdis „Traviata“ (Carlos Kleiber) und Haydns „Schöpfung“ (Karl Böhm) wurden – wie auch im Fall unserer teilweise in der Box enthaltenen DG-Hörempfehlungen – vor allem Einzelaufnahmen ausgesucht, bei denen von Argerich und Bernstein über Kempff und Thielemann bis Horowitz und Nelsons alles von Rang und Namen dabei ist. Bei der zeitgenössischen Musik ist mit Kagels „1898“ gar ein Stück zu hören, das für den 100. Geburtstag der DG entstanden war. Eine Bonus-CD mit einer Vorschau auf zukünftige Veröffentlichungen plus ein 200 Seiten-Booklet mit Fotos und Dokumentationen zu den Aufnahmen runden das Geburtstagspaket ab.
Guido Fischer, 10.11.2018, RONDO Ausgabe 5 / 2018
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