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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Winrich Hopp (c) Lucie Jansch

Musikfest Berlin

Spirituelle Qualität

Das große Orchesterfestival in der Hauptstadt hat an sich schon rituellen Charakter. Dieses Jahr greift auch der assoziativ weit gespannte Titel darauf zurück.

Seit 2006 verantwortet Winrich Hopp die künstlerische Leitung des Musikfests Berlin. Veranstaltet von den Berliner Festspielen in Kooperation mit der Stiftung der Berliner Philharmoniker finden an 19 Tagen 27 Veranstaltungen statt, dieses Jahr unter dem Titel „Rituale, Zeremonien, Aktionen und Symphonien“. Im Innenhof des Hauses der Berliner Festspiele sprechen wir unter blütenrieselnden Kastanien über Programmlinien, Schwerpunkte und inhaltliche Berührungen der Programme.

RONDO: Das Musikfest ist ein Orchesterfestival, das illustre internationale Orchester einlädt. Wie entstehen die ausgefuchsten Programme mit ihren selten zu hörenden Werken?

Winrich Hopp: Die Programme entstehen mit den Künstlern zusammen. Wenn Sie mit so großen Orchestern zusammenarbeiten, ist es wichtig, dass Sie dem Gastorchester die Chance geben, sich mit dem abzubilden, wofür es steht.

RONDO: Welches Publikum haben Sie im Auge?

Hopp: Es gibt viele Konzertbesucher, die durchaus an den Werken interessiert sind, aber auch eine ganze Reihe, die vor allen an den Orchestern und den Solisten interessiert sind. Trotz des Interpreten- Kults ist es mir sehr wichtig, doch das Werk, den Komponisten ins Zentrum zu rücken. Dass die großen Namen der Interpreten sich für Komponisten einsetzen.

RONDO: Wie ist die Resonanz?

Hopp: Natürlich kauft sich keiner für alle 30 Konzerte Tickets, aber mitunter schon für fünf, sechs Veranstaltungen. Das Musikfest wird sehr gut angenommen, wir sind bei den Besucherzahlen durchschnittlich in der Skala von 38.000 bis 46.000 Besuchern bei knapp 30 Veranstaltungen.

RONDO: Wie entwickeln Sie das Motto, wie in diesem Jahr „Rituale, Zeremonien“?

Hopp: Ein Motto haben wir eigentlich nicht. Das „Thematische“ ist vielmehr etwas, das aus der Konstellation von Komponisten entsteht. Die Komponisten und ihre Werke sind zuerst da, und dann die Frage, wie fügt sich das? Diesmal ist es die Kombination von Karlheinz Stockhausen, Bernd Alois Zimmermann, Pierre Boulez, Claude Debussy, George Benjamin und die Anreicherungen mit György Ligeti, Igor Strawinski, Richard Wagner, Anton Bruckner usw.. Die Festivalprogramme gleichen eher einer Erzählung.

RONDO: Aber das Zeremonielle, das im Titel anklingt, zieht sich schon durch die Konzerte?

Hopp: Das diesjährige Programm hat durchaus eine spirituelle Qualität, denn wir präsentieren Programme, in denen das Werk sich selber ritualisiert. Und etwas Zeremonielles bekommt, wobei das eine Sache ist, die überwiegend im Ohr stattfindet und nicht sichtbar wird. Bei Stockhausens „INORI“ wird es allerdings halbszenisch, denn da gibt es diese Gebetsgesten. Oder ein Stück wie „Rituel“ von Boulez, das ist eine Art von Requiem, komponiert wie eine Begräbniszeremonie aus Bali mit antiphonalen sieben Orchestergruppen. Das sind Formen, die man normalerweise in sinfonischen Konzerten nicht erleben kann, denn eine Sinfonie ist eigentlich gebaut wie ein Roman, ein Musikfluss mit Anfang und Finale, während Boulez’ „Rituel“ ein räumliches Ereignis ist.

RONDO: Was war denn bei diesem Jahrgang zuerst da?

Hopp: Das ist so, wie wenn sie einen Tausendfüßler fragen, welchen Fuß er zuerst vor den anderen setzt.

RONDO: Und was für einen Vorlauf haben Sie?

Hopp: Zwischen drei und vier Jahre. Die Programme müssen auch kompatibel sein mit anderen Tourneeorten, denn die Orchester reisen ja nur mit zwei, maximal drei Programmen. Und dann muss man sehen, dass man an die Spitze der Diskussion kommt, um das Programm für das eigene Festival auszurichten.

RONDO: Wie haben sich die Komponisten ergeben, die diesmal im Zentrum stehen?

Hopp: In diesem Jahr war mir schon klar, dass Zimmermann ins Programm kommen sollte, ich war auch früh involviert in die Überlegungen der Lucerne-Academy, „INORI“ hochzuziehen, ich habe das Werk in München 1998 mit Stockhausen selber noch gemacht und halte es für ein ganz wichtiges Stück. Und Stockhausen passt gut zu Zimmermann, beide waren Katholiken der rheinischen Art und ein bisschen Antipoden. Und dann habe ich mit Barenboim gesprochen, wir waren uns einig, dass wir „Rituel “ von Pierre Boulez machen wollen und zwar in der Form der Aufstellung, wie ich das mit Boulez 2010 für den Saal der Berliner Philharmonie besprochen habe, weil er das Werk eigentlich nicht mehr auf einer normalen Konzertbühne sehen wollte, ich dann aber eine Einrichtung vorschlagen konnte, wie es dann doch geht, um seinen Intentionen gerecht zu werden.

RONDO: Welches sind die zentralen Werke dieses Jahrgangs?

Hopp: Wir haben „Rituel“ am Anfang und „INORI“ am Ende, zwei sehr zeremonielle Stücke. Und da gibt es Berührungspunkte zu Debussy, zu Strawinski, zu Wagner und Bruckner. So kann man auch mit Namen des Repertoires arbeiten. Das mache ich beim Musikfest immer so, dass es zwei, drei Namen gibt, und die erhalten dann ihre Satelliten, ihre Nachbarschaften.

RONDO: Eins ergibt das andere, es ist also ein Aufspüren von Verwandtschaften?

Hopp: Die Dramaturgie entwickelt sich aus sich selbst und aus den Stücken heraus. Der Webern-Anteil ist zum Beispiel über das Ensemble Modern Orchestra reingekommen, die mit Mathias Spahlingers „passage/payage“ eines der wichtigsten Stücke vom Ende des 20. Jahrhunderts spielen, ein 40-Minuten-Mammut. Schon vom Format passt es unglaublich gut als Gegenklang zu dem abendfüllenden „INORI“. Als Spahlinger das Werk komponiert hat, hat er sich sehr für Webern interessiert. Und Webern ist ja seinerseits für Stockhausen und Boulez sehr wichtig gewesen.

Musikfest Berlin 2018

„Rituale, Zeremonien, Aktionen und Symphonien“
31.8. - 18. 9.
Infos und Termine unter:
www.goo.gl/NFy5p5

Klasse(n)treffen

Das Musikfest Berlin bietet in dieser Saison 65 Werke von rund 25 Komponisten, im Zentrum stehen Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, George Benjamin und Bernd Alois Zimmermann, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre. Neben den Berliner Klangkörpern sind unter anderem das Boston Symphony Orchestra unter Andris Nelsons mit Mahlers Dritter, das Royal Concertgebouw Orchestra unter Yannick Nézet- Séguin mit Zimmermanns „Symphonie in einem Satz“, die Münchner Philharmoniker unter Valery Gergiev mit Zimmermanns „ekklesiastischer Aktion“ und das Orchester der Lucerne Festival Academy mit Stockhausens „INORI“ unter der Leitung von Peter Eötvös zu hören.

Regine Müller, 19.05.2018, RONDO Ausgabe 3 / 2018



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