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N° 1354
20. - 30.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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(c) Jim Rakete/Act

e.s.t. live in London

Lebendige Erinnerung

Zum zehnten Todestag von Esbjörn Svensson erscheint eine unveröffentlichte Live-Aufnahme seines wegweisenden Trios e.s.t.

Streng genommen tat der Soundingenieur Ake Linton etwas Verbotenes, als er im Mai 2005 die Record- Taste drückte. „Eigentlich war es untersagt, Aufnahmen im Barbican Centre zu machen“, erzählt Schlagzeuger Magnus Öström, der mit dem Pianisten Esbjörn Svensson und dem Bassisten Dan Berglund, gemeinsam besser bekannt als e.s.t., damals in London ein fabelhaftes Konzert gab. Dass sich ihr schwedischer Tonmann nicht an die Regularien in der ausverkauften Veranstaltungshalle hielt, ist aus heutiger Sicht ein Glücksfall.
Denn so blieb der Nachwelt ein Dokument des populärsten europäischen Jazz-Piano-Trios der vergangenen Jahrzehnte auf dem Zenit seiner Schaffenskraft erhalten. Im Januar 2005 war „Viaticum“ erschienen, die meistverkaufte CD der drei Schweden. Ein Jahr später, im Mai 2006, zierten Svensson, Berglund und Öström als erste europäische Band überhaupt das Titelbild der amerikanischen Jazzmagazin-Institution „Downbeat“. „Europe Invades“ lautete die Schlagzeile auf dem Cover. Selbst die USA waren bereit, sich von den freundlichen Wikingern einnehmen zu lassen.
„Von heute aus betrachtet befanden wir uns da möglicherweise auf dem Höhepunkt“, erinnert sich der mittlerweile weißhaarige Öström im Berliner Büro der Plattenfirma des Trios, „es ist allerdings schwer zu sagen. Wir hatten eigentlich immer das Gefühl, dass es noch viel zu entdecken und zu spielen gibt.“ Doch drei Jahre nach dem Londoner Konzert, in dem e.s.t. Stücke des „Viaticum“-Studioalbums auf bis zu 17-minütige Entdeckungsreisen für Herz, Geist und das Belohnungszentrum dehnte, war auf einen grausamen Schlag alles vorbei.
Pianist Svensson, der mit seinem Gespür für einnehmende Melodien, seiner aus der Klassik kommenden Spielkultur und seiner blinden Vertrautheit mit dem Jazz-Klavierkanon von Art Tatum bis Joe Zawinul das Zentrum des Trios bildete, kam am 14. Juni 2008 bei einem Tauchunfall in den Schären vor Stockholm um. Er hinterließ eine weltweit trauernde Fangemeinde und zwei erschütterte Freunde an Kontrabass und Schlagzeug.
Berglund und Öström brauchten eine Weile, bis sie überhaupt wieder Musik machen konnten. Inzwischen haben sie sich von e.s.t. emanzipiert, Berglund mit seiner Formation Tonbruket, die Americana, Folk und Krautjazz zu einem Gebräu mit hypnotischer Wirkung destilliert (zu hören auf dem gerade veröffentlichten Konzertmitschnitt „Live Salvation“, ACT/Edel), Öström mit seinen zwischen Progrock und Pat-Metheny- Einflüssen vermittelnden Soloalben (zuletzt erschien „Parachute“, Playground/Edel). Mittlerweile agieren die beiden auch wieder zusammen in einem Piano-Trio; mit dem Norweger Bugge Wesseltoft an den Tasten gab es schon Konzerte.

Der Weg zum stilprägenden Trio

Wie schmerzvoll war es, beim Abhören der Londoner Live-Aufnahmen wieder an die Vergangenheit erinnert zu werden? „Das Hauptgefühl war positiv“, erklärt Öström, der als ein Spielkamerad des Pianisten seit Kindesbeinen besonders schlimm von dessen Tod betroffen war. „Das alles funktioniert immer noch, es klingt nicht veraltet. Es fühlt sich gut an, diese Aufnahme zu haben. Zum einen als bleibende Erinnerung zehn Jahre nach Esbjörns Tod, zum anderen, um diese Musik einer neuen Generation nahezubringen.“
Nach den Alben „301“, das unveröffentlichtes Studiomaterial der „Leucocyte“-Sessions birgt, und dem Orchesterwerk „e.s.t. Symphony“ ist „Live In London“ nun das authentischste Erzeugnis aus dem musikalischen Nachlass Svenssons. Ähnlich wie das bunte Steckbild auf dem CD-Cover zeigt es noch einmal die beinahe kindliche Spielfreude der drei Instrumentalisten, ihre enge Verbundenheit und die Vielfarbigkeit ihres Sounds. Dieser wurde nicht zuletzt von dem Einsatz elektronischer Verfremdungsmittel bestimmt.
In London modelte Dan Berglund wie so oft seinen Kontrabass in eine fauchende E-Gitarre um. Aber auch Schlagzeuger Öström verwandelte sein Set dank Whammy-Effekt und Delays in einem ausgedehnten Solo in eine elektroakustische Schimäre, zudem versah Svensson seinen Flügel hier und da mit einem körnigen Klang, der dem Instrument etwas Jenseitiges gab – wie der Patina auf einem vergilbten Foto, das auf dem Dachboden gefunden wurde.
„Live In London“ macht noch einmal klar, weshalb e.s.t. zu einem stilprägenden Trio wurde, dessen Erbe von unzähligen Formationen, derzeit am prominentesten vom Tingvall Trio oder GoGo Penguin, am Leben gehalten wird. Selbst Kendrick Lamar, der momentan wichtigste Hip- Hopper, benutzte auf seinem Erfolgsalbum „To Pimp A Butterfly“ ein Sample, das verdächtig nach e.s.t. klingt. „Es gibt offenbar viele, die wir beeinflusst haben“, bemerkt Öström, „und dafür muss man dankbar sein. Wenn man jemanden anderen inspirieren konnte, ist das fantastisch. Mehr kann man nicht erwarten.“

Neu erschienen:

e.s.t. – Live in London

ACT/Edel

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Esbjörn Svensson

wurde 1964 in Schweden als Sohn einer klassischen Pianistin und eines Jazzliebhabers geboren. Inspiriert vom Rock, Frédéric Chopin und Keith Jarrett gründete er nach dem Musikstudium in Stockholm mit seinem Sandkastenfreund Magnus Öström 1990 sein erstes Trio, aus dem 1993 e.s.t. entstand. Mit der „Rockband, die Jazz spielt“ eroberte der Pianist, der zeitweise auch mit Posaunist Nils Landgren und der Sängerin Viktoria Tolstoy zusammenarbeitete, ab 1999 Clubs und Jazz-Charts und erwarb sich auch Anerkennung in den USA. Stargitarrist Pat Metheny urteilte nach dem tragischen Ableben Svenssons bei einem Tauchunfall im Juni 2008: „He was fantastic“.

Josef Engels, 19.05.2018, RONDO Ausgabe 3 / 2018



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