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N° 1298
25. - 31.03.2023

nächste Aktualisierung
am 01.04.2023



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Sowohl in Alter wie Neuer Musik zuhause: Jean-Claude Malgoire (c) alchetron.com

Pasticcio

Ein Freund der Musik

Was die Hege und Pflege des kulturellen Erbes angeht, hatte sich Frankreich noch nie etwas vorzuwerfen. Unter dem allgegenwärtigen Begriff des „Patrimoine“ wird da noch jeder zweitklassige Dichterschädel entstaubt und hochglanzpoliert, um die Strahlkraft längst vergangener Jahrhunderte und Leistungen zu dokumentieren. Mit einer Unterlassungssünde auf dem Gebiet der Schönen Künste konnte man aber recht lange leben. Denn speziell die französische Barockmusik spielte bis Mitte der 1980er Jahre nur eine abseitige Rolle. 1987 wurde endlich in Versailles das Centre de musique baroque gegründet, ein Institut, das seitdem akribisch die Partituren von Lully, Charpentier, Rameau & Co. herausbringt. Und für den ersten Schwung zeichnete damals mit Jean-Claude Malgoire die Idealbesetzung auf dem Chefsessel verantwortlich. Denn wenn es einen Dirigenten gab, der noch vor dem gleichgesinnten Kollegen William Christie sich für die Opern, Messen und Oratorien aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert unaufhörlich einsetzte, dann war es Malgoire. So war er es, der bereits 1977 und damit zehn Jahre vor Christies legendärer Aufnahme von Lullys „Atys“ mit „Alceste“ die klaffende diskographische Lully-Lücke füllte. Und schon 1973 legte Monsieur mit „Les Indes Galantes“ den Grundstein für jene überfällige Rameau-Renaissance, die ein Jahrzehnt später auch Marc Minkowski mitverantworten sollte. Mit dabei hatte Jean-Claude Malgoire, der 1940 im südfranzösischen Avignon geboren wurde, stets sein 1966 gegründetes Alte Musik-Ensemble La Grande Écurie et la Chambre du Roy.
Im Laufe eines halben Jahrhunderts sind so zahllose Einspielungen zusammengekommen, mit denen Malgoire seine musikalische Trüffelnase unter Beweis stellen konnte. Wobei er sich nie auf das muttersprachliche Repertoire fokussierte, sondern auch Vivaldi und Händel neu entdeckte. Überhaupt war Malgoires musikalischer Appetit enorm. Er gilt zwar als eine der wichtigsten Gestalten für die historische Aufführungspraxis. Dabei kannte er sich gleichermaßen blendend in der Neuen Musik aus. So spielte der studierte Oboist, der später sogar im Orchestre de Paris 1. Oboist war, etwa die französische Erstaufführung von Luciano Berios „Sequenza“ für Solo-Oboe. Ab 1972 war er Mitglied des Ensembles für zeitgenössische Musik 2E2M. Zudem organisierte er in jener Zeit Konzerte in der Pariser Conciergerie, in denen alles gespielt wurde – mittelalterliche Musik, Bach-Kantaten und neue Stücke, die auch Georges Aperghis extra für Malgoire & Co. komponiert hatte. Und wenngleich es keine offizielle Werbung gab, sondern nur Mund-zu-Mund-Propaganda, stand das Publikum für die Konzerte regelmäßig bis auf die andere Seite der Seine Schlange.
Malgoire besaß aber darüber hinaus auch das feine Gespür und Ohr für blutjunge Sängertalente. So förderte er etwa schon früh Sopranistin Véronique Gens oder die beiden Countertenöre Philippe Jaroussky und Dominique Visse. Nun ist dieser Ausnahmemusiker im Alter von 77 Jahren verstorben. Und vielleicht hätte es ihm ja gefallen, wenn man jetzt zur Erinnerung an ihn eine seiner letzten und zugleich bewegendsten Aufnahmen auflegt. Es ist Malgoires Einspielung des „Requiem à la Mémoire de Louis XVI“ aus der Feder eines gewissen Sigismund Neukomm.

Guido Fischer



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