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N° 1353
13. - 21.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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(c) Marco Borggreve

Martha Argerich

Diabolisches Doppel

Im Prokofjew-Doppel mit dem Klavier-Geheimtipp Sergei Babayan zeigt die Argentinierin, dass sie immer noch die Beste ist.

Keine andere Künstlerin hat es fertiggebracht, so sehr als Inbegriff pianistischer Super-Rarheit zu gelten wie Martha Argerich – und zugleich immer mehr CDs aufzunehmen. Solistisch tritt sie zwar schon lange nicht mehr auf. Mit Orchester jedoch, ebenso als Kammermusikerin, ist die inzwischen unglaublicherweise 76-Jährige auch heute noch (nach dem Aus ihres Festivals in Lugano) umtriebiger denn je.
Verborgen hinter einer ergrauten Löw(inn)en-Kolossalmähne, brilliert sie nach wie vor. Und spielt bei Live-Auftritten gelegentlich sogar Solo-Zugaben; die aber nur dann gut sind, wenn sie wirklich Lust hat. Bei den wenigen Werken, mit denen sie regulär konzertiert, sitzt man auch heute noch mit offenem Munde da vor Staunen über die atemberaubenden Tempi, katzenhaften Intervallsprünge und irrwitzigen Erbsen-Läufe, die niemand knackiger hinbekommt als „Bella Martha“.
Jüngst überzeugte sie sogar die Deutsche Grammophon davon, für sich und den armenischen Pianisten-Geheimtipp Sergei Babayan ein CD-Denkmal mit dem Titel „Prokofiev For Two“ zu errichten. Man hat Grund zur Neugier: Babayan, geboren in Gjumri, war bei uns jahrelang nahezu unbekannt. In den Augen der westlichen Öffentlichkeit punktete er vor allem damit, dass er der wichtigste Lehrer des derzeit interessantesten (freilich auch überbuchtesten) Klavier-Jungstars von allen ist, nämlich von Daniil Trifonov. Mit ihm war Babayan kürzlich in Deutschland sogar auf Konzert-Tournee.
Nachdem Babayan seinerzeit in Moskau bei dem inzwischen haarscharf aus der Kurve zu fliegen drohenden Mikhail Pletnev studierte (einem ehemals absolut überragenden Klavier- Virtuosen!), ging jener in die USA. Hier ließ er sich einbürgern. Da die amerikanische Pianistenwelt von der europäischen noch heute stark getrennt ist, bekam man von Babayans dortiger Karriere wenig mit. Erst mit Valery Gergiev begann sich vor zwei Jahren, im Rahmen von zwei Prokofjew-Klavierkonzerten, in Europa jemand für ihn einzusetzen. Sergei Babayan ist inzwischen 57 Jahre alt. Sein Anschlag ist weicher, auch etwas indifferenter, aber kaum weniger pochend und perkussiv als der von Martha Argerich selber. Die neunzehn kleinen Stücke, die aus dem nichtpianistischen Werk Prokofjews für das Album zusammengetragen wurden, hat Babayan selbst transkribiert. Es handelt sich um Arrangements für zwei Klaviere aus den Balletten („Romeo und Julia“), Schauspielmusiken („Hamlet“, „Eugen Onegin“), Filmen („Pique Dame“) und Opern („Krieg und Frieden“). Hinzu kommt ein ursprüngliches Orchesterstück (Puschkin-Walzer Nr. 2).

Der Ritt auf dem Weinfass

Die musikalische Machart wirkt so schlagwerkhaft, dass man das eine oder andere beinahe nicht Prokofjew, sondern schon Schostakowitsch zurechnen möchte. Babayan als Arrangeur entdeckt in fast allen Werken die Anlage zum Teufels-Walzer, zum sardonischen Tanz auf dem Weinfass, kurz: zum Höllenritt. Das trifft den Charakter des Komponisten nicht übel und wurde von Argerich – einer erfahrenen Prokofjew-Spielerin – offenbar begeistert aufgenommen und akzeptiert.
Die Darstellung der beiden Pianisten ist – bei aller musikalischen Aufgekratztheit und Aggressivität – so symbiotisch, dass man beide Künstler kaum noch auseinander zu halten vermag. (Ein Phänomen, das es früher schon in der Musikgeschichte gab: So ist man sich auch bei den legendären Schubert-Sessions mit Benjamin Britten und Svjatoslav Richter bis heute nicht ganz sicher, wer welchen Part in den überlieferten Aufnahmen übernommen hat …) Hier scheinen siamesische Klavier-Zwillinge nur ganz kurz getrennt worden zu sein.
Der unendliche Detailreichtum, das Pieksende und Prickelnde, ein mörderisches Agens des musikalischen Fortschritts mithin lässt immer wieder begeistert aufhorchen. Dabei scheint den Werken alle lyrische Süße, alle tänzerische Eleganz ausgetrieben. Stattdessen bringen es Argerich & Babayan fertig, noch in den sirrendsten, kieksendsten Höhenregistern überirdisch auf dem Klavier zu singen. Im Getümmel des Infernos hört man immer wieder plötzlich das Kichern nacktärschiger Engel. Große Kunst.
So ist diese neueste ‚Argerichiade’, sechs Jahre nach der letzten Lugano-Auswertung, eine kleine Sensation. Weit besser auch als ihr zwischenzeitliches Doppel mit Daniel Barenboim. Denn: reizvolles Repertoire! Ein sympathischer Wiedergutmachungsgedanke für den fast unbekannten Pianisten-Kollegen Babayan. Und eine CD, die sich endlich mal nicht zwischen den verschiedensten Komponisten und Petitessen verläppert und verliert – wie sonst manchmal bei Argerich. Kurz: Immer noch bewährt sich ‚Mama Martha’ – die Pianistin mit den kleinen Händen und den großen Füßen – als Beste von allen. Höchste Zeit auch, sie dafür zu preisen, dass sie als einzige im internationalen Pianisten-Zirkus nicht auf die immer gleichen Solo-Schlachtrösser schwor, um welche sich all ihre hochmögenden Kollegen balgen. Argerich setzte stattdessen auf die unbekannten Nebenwerke, mit denen man leicht zwischen allen Stühlen sitzt. Hier nicht. Bella Martha is back. Im Doppel. Und die Klavier-Diva ist immer noch liebenswerter als alle anderen.

Neu erschienen:

Sergei Prokofjew

Prokofiev For Two

Martha Argerich, Sergei Babayan

DG/Universal

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Aus Prokofjews Klaviermusik

… haben sich eigentlich nur das 3. Klavierkonzert und die 7. Sonate beim Publikum durchgesetzt – gefolgt von den Sonaten Nr. 6 und 8, der kalaschnikoffartigen Toccata in d-Moll und den „Visions Fugitives“. Immerhin! Es sind hervorragende Stücke, die ihren Erfolg nicht zuletzt dem langjährigen Missionsgeist des Prokofjew-Adepten Svjatoslav Richter verdanken. Ihm folgten große Pianisten von Vladimir Ashkenazy bis Nikolai Demidenko, Yefim Bronfman bis Grigori Sokolov. Was bedeutet, dass die großen Prokofjew- Pianisten – abgesehen von Martha Argerich – immer noch slawisch verwurzelt sind. Eine klassische Prokofjew-Box fehlt hingegen bis heute.

Robert Fraunholzer, 31.03.2018, RONDO Ausgabe 2 / 2018



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