home

N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



Startseite · Oper & Konzert · Hausbesuch

(c) Monika Rittershaus

Jerusalem International Chamber Music Festival

Hungern nach Musik

Das Jerusalemer Kammermusikfestival feiert 20. Geburtstag. Doch Gründerin Elena Bashkirova ist noch längst nicht amtsmüde.

Unser Telefon-Interview findet mitten in ihrem Urlaub statt. Elena Bashkirova, Pianistin, Ehefrau von Daniel Barenboim und Mutter der beiden gemeinsamen Söhne Michael und David, sommerfrischt gerade im Süden Spaniens. Die Stimme der 59-Jährigen klingt sehr jung und moduliert so klangvoll wie die einer Sängerin. Als wir telefonieren, ist es im Süden Spaniens ausnahmsweise bewölkt. „Ein paar Tage Ruhe für die Augen, das ist sehr gut“, sagt Bashkirova.
1998 hat sie die erste Ausgabe des Jerusalem International Chamber Music Festival über die Bühne gebracht. Das ist lange her. Hätte sie jemals gedacht, dass sie mit dem Festival den 20. Geburtstag feiert? „Nein, ich habe niemals so weit gedacht, es war ja damals zunächst einmal nur ein Experiment. Wir haben einfach versucht, etwas Schönes auf die Beine zu stellen, etwas, was Jerusalem brauchte. Und noch immer braucht! Es war ein Versuch, wir hatten überhaupt keine Struktur, kein Geld, alles machten wir selbst. Als das erste Jahr dann ein großer Erfolg wurde, was für uns alle überraschend war, haben wir eben weitergemacht. Und dann weiter und weiter und dann hat man nicht mehr gezählt. Und jetzt zwanzig Jahre? Vor dieser Zahl hat man schon Respekt. Aber eigentlich bleibt alles so, wie es war.“
Im historischen Kuppelsaal der Mary Nathaniel Hall, des West-Jerusalemer Hauses des Christlichen Verbands junger Menschen (YMCA), präsentiert Bashkirova zehn Tage lang im September eine sehr spezielle kammermusikalische Mischung: populäres russisches Repertoire mit Glinka, Mussorgski, Prokofjew, Tschaikowski und Schostakowitsch, aber auch Raritäten wie Kompositionen von Anton Arenski und Nikolai Roslawez, viel mitteleuropäisches Kern-Repertoire mit Haydn, Strauss, Schumann, Mozart, Liszt, dazu spätes 20. und 21. Jahrhundert mit Berio, Schnittke, Höller und – wie jedes Jahr – Uraufführungen von Auftragswerken. Dieses Mischkonzept hat sich bewährt. „Wir haben allerdings heute ein viel größeres Publikum. Und die Erwartungen hungwachsen, denn immer heißt es, das war jetzt das beste Festival. So wird jedes Programm ein bisschen schwerer. Ich habe jetzt wegen des 20. Jubiläums die alten Programmhefte ausgegraben, eigentlich könnten wir uns auch wiederholen. Zumal das Publikum zwar auch neue Sachen will, aber eigentlich wollen sie immer die gleichen Lieblingsstücke hören. Das ist eine Falle, denn man möchte nett sein zum Publikum, und dass es glücklich ist, und trotzdem will ich, dass es etwas Neues entdeckt.“
Vor zwanzig Jahren mussten Journalisten und Musikwissenschaftler Elena Bashkirova zu der Festival-Idee erst mühsam überreden. Denn sie war zunächst skeptisch: „Es hieß, es steht schlecht hier um die Musik, man muss etwas tun, wir brauchen frisches Blut. Ich selbst hätte niemals daran gedacht, ausgerechnet in Israel und erst recht nicht in Jerusalem ein Festival zu machen. Denn es gibt ja so viele gute Musiker und kluge Leute dort. Jetzt aber weiß ich, dass es richtig war, dass ich das dort als Fremde mache, aus einem gesunden Abstand heraus zu den lokalen Gegebenheiten.“

Musik für eine warme Mahlzeit

Jerusalem ist eine Stadt mit 3000-jähriger Geschichte, ein Schmelztiegel der Religionen und Lebenswelten. „Aber kulturell ist diese Stadt eine Wüste, damals wie heute. In Jerusalem ging es immer um Eroberungen, um Religion und Krieg. Kultur in unserem westlichen Verständnis hat in Jerusalem kaum eine Rolle gespielt. Tel Aviv ist eine westliche Stadt, Jerusalem aber bleibt Orient“.
Das Publikum des Kammermusikfestivals kommt daher nicht nur aus Jerusalem, sondern auch aus Tel Aviv. Darunter sind noch einige, die aus Nazi-Deutschland geflohen sind. Und deren Kinder und Enkel, die eine klassische Musikerziehung genossen haben. Für Bashkirova ist es das beste Publikum auf der Welt: „Gerade dieses Publikum in Jerusalem hat einen Anspruch auf etwas Gutes, Großes. Sie sind total ausgehungert! Für sie zu spielen, macht für mich mehr Sinn, als bei den großen, glanzvollen Festivals zu spielen, weil die Leute dort eigentlich übersättigt sind. Dieses hungrige Publikum aber ist sehr dankbar, hoch gebildet und kultiviert.“
Das wissen auch die Künstler zu schätzen, die in Jerusalem allesamt auf ihre Gagen verzichten, nur Flug und Unterkunft werden bezahlt und nach jedem Konzert sitzen alle beim gemeinsamen Essen zusammen. Viele der illustren Musiker sind Stammgäste, weil sie die freundschaftlich familiäre Atmosphäre lieben und darum wissen, wie wichtig dieses Festival für die tief gespaltene Stadt ist, die in den letzten Jahren einen Exodus des säkular gesinnten, liberalen Bildungsbürgertums erlebt, das es in die Küstenstädte zieht. „Wir Musiker sind hier alle gleich, wir kriegen keine Gage, aber wir spüren bei diesen Konzerten, wozu wir eigentlich da sind. Das gibt uns mehr Befriedigung als Luxus und hohe Gagen, denn wir spüren, dass wir gebraucht werden.“
Die Planung des Festivals begleitet Elena Bashkirova das ganze Jahr. Zumal seit 2012 mit dem Festival „intonations“ jedes Jahr im Frühjahr auch ein Ableger – „der kleine Bruder“ – in Berlin stattfindet. Dessen Programm ist jedoch nicht deckungsgleich mit dem in Jerusalem.
Die Dramaturgie des Festivals folgt thematischen Strängen, einer ist meistens ein Komponistenjubiläum, hinzu kommt ein intellektuelles Meta-Thema. „In diesem Jahr aber lassen wir zwanzig Jahre Revue passieren und präsentieren große, zentrale Stücke, die unser Festival geprägt haben, und ein paar der vielen, vielen Auftragswerke, die für uns geschrieben wurden.“
Das Budget des Festivals ist klein, Bashkirova bezeichnet es als „winzig“, es wird nicht von der Regierung unterstützt, sondern lebt von Stiftungen, privaten Spenden und dem Kartenverkauf. Es ist ein mühsames, aufwändiges Geschäft. Aber noch ist Bashkirova längst nicht amtsmüde. „Ich habe schon mal heimlich gedacht, zwanzig Jahre sind genug und dann auch laut darüber nachgedacht, aufzuhören. Aber da sind alle furchtbar erschrocken, ich war überrascht. Und wenn ich dann nach Jerusalem komme, und die Musiker und das Publikum freuen sich so sehr, und ich erlebe den Enthusiasmus, der das Projekt trägt, dann spüre ich überhaupt keine Müdigkeit. Es macht mir immer noch großen Spaß. Auch als Musikerin, weil ich hier diese wunderbaren kammermusikalischen Erfahrungen mit den Kollegen habe. Und die Planung ist eine intellektuelle Herausforderung, die mich viel weiter gebracht hat im Kopf. Ich bin eben nicht nur Pianistin! Das Festival ist längst ein Teil meines Wesens.“

Jerusalem International Chamber Music Festival

31. August - 9. September
www.jcmf.org.il

Kammermusik für eine geteilte Stadt

Das Jerusalem International Chamber Music Festival findet in diesem Jubiläumsjahr vom 31. August bis zum 9. September statt, 63 Künstler sind eingeladen und spielen in unterschiedlichsten Formationen in vierzehn Konzerten Kammermusik. Unter den Gästen sind in diesem Jahr Martha Argerich, Renaud Capuçon, Robert Holl, Angela Denoke, Kolja Blacher, Guy Braunstein, Julian Steckel, Yefim Bronfman und israelische Künstler und Ensembles wie das Bläserquintett „The Tel Aviv Wind“, die in Mitteleuropa noch wenig bekannt sind. Die Formation spielt zur Eröffnung des Festivals die Uraufführung des Werks „ Iridescence“ des jungen israelischen Komponisten Omri Abram.

Regine Müller, 02.09.2017, RONDO Ausgabe 4 / 2017



Kommentare

Kommentar posten

Für diesen Artikel gibt es noch keine Kommentare.


Das könnte Sie auch interessieren

Pasticcio

Erster Schritt in die Zukunft

Schon im August war durchgesickert, dass sich Salzburg 2017 verändern wird. Und zwar hin zu einem […]
zum Artikel

Pasticcio

12, rue Saint-Louis-en-l’Isle

Meldungen und Meinungen der Musikwelt

Dass Komponieren jung hält, kann man an gleich drei prominenten Beispielen der französischen […]
zum Artikel

Boulevard

Überschäumender Klassik

Ein Schuss Jazz, eine Prise Film, ein Löffel Leichtigkeit: Bunte Klassik

Jazz Klassik und Jazz zu verbinden, ist ein gefährliches Feld: zu zahlreich die Vorbilder, zu […]
zum Artikel


Abo

Top