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(c) Marco Borggreve
Sie habe, als sie noch im Chor sang, das „sound blending“ sehr geliebt, sagt Carolyn Sampson. Damit meint sie: die homogene Klangmischung der Farben und der Stimmen. Lehrreich. Fast alle britischen Sänger fügen sich perfekt in das Klangbild ihrer Chor- und auch Orchester-Ensembles ein. Schließlich kommen fast alle aus der traditionsreichen Chor-Bewegung ihres sangesfreudigen Landes. Diese spezifische Form des „instrumentalen Singens“ kann man als Geheimnis auch von Carolyn Sampson ansehen – dem zurzeit vielleicht besten britischen Sopran in der Nachfolge von Emma Kirkby, Margaret Marshall und Margaret Price.
Nur dass dies bislang kaum jemand bei uns gemerkt zu haben scheint! „Ich habe zwei Kinder, auf PR habe ich bislang kaum Wert gelegt“, so die 1974 im mittelenglischen Bedford geborene Sängerin. Dabei kann man ihr, die in Freiburg im Breisgau verheiratet ist und lebt, schon seit etlichen Jahren begegnen. Ihr schlackenloser, hymnisch strahlender Sopran hebt sich flügelleicht bis in höchste Höhen hinauf. Ein Engel mit Vergangenheit! Denn Keuschheit, nein, die kommt dieser wunderbaren Stimme doch nicht recht zu. In Deutschland war Carolyn Sampson zumeist als Live-Konzertsängerin zu erleben. Das soll sich jetzt ändern.
Neben ihrer ersten Mélisande, neben Händel-Opern und Purcell am Theater an der Wien bringt ihr Label die Sängerin nun groß als Bach-Protagonistin heraus. Bach sang sie schon unter so unterschiedlichen Dirigenten wie Philippe Herreweghe – der sie maßgeblich prägte –, Masaaki Suzuki und Riccardo Chailly (auch auf CD). Wobei interessant ist, dass ein eher orthodox historischer Dirigent wie Herreweghe, so Sampson, „auf Legato besonderen Wert“ legte; und Chailly „bitte weniger Vibrato“ einforderte. Just das Gegenteil von dem, was das Klischee will. „Natürlich weiß ich, dass Herreweghe von vornherein weniger Vibrato erwartet“, so Sampson. Die Antipoden, wie man daraus ersehen kann, bewegen sich immer stärker aufeinander zu. Haben wir bald einen Bach-Konsens, einen „Bach für alle“?!
Carolyn Sampson jedenfalls, wie ihr neues Bach-Album beweist, wäre vokal der richtige gemeinsame Nenner dafür. Und weit mehr! Die Frische, Direktheit und Artikulationsfreudigkeit – ohne hysterisch den Text nach tieferen Schichten zu durchwühlen – ist wahrlich eine Freude. Mit der Hochzeitskantate „Weichet nur, betrübte Schatten“ BWV 202 und mit „Mein Herze schwimmt in Blut“ BWV 199 (Weimarer Fassung) hat sie hier Texte zu singen, deren pietistische Wut und Wucht für niemanden leicht zu schultern sind. „Stumme Seufzer, stille Klagen“ sind da noch das Wenigste. Sampson muss aus Textergüssen wie „So sei das Band der keuschen Liebe“ und „Ich lege mich in diese Wunden“ flüssigen Sinn machen.
„Bloß nicht überinterpretieren!“, behilft sie sich tapfer. „Ich versuche mir Bilder vorzustellen“, so Sampson, „aber man muss sich hüten, Wort für Wort ausmalen zu wollen“. Damit hat sie in der Tat einen fundamentalen Unterschied zur Interpretation früherer Generationen benannt. Damals suchte man – auf der Basis der sogenannten „Hypotyposis“ – den Sinn jedes Wortes plastisch in Klang umzusetzen. Beim „Schauer“ musste es einen durchschauern. Wenn Blüten sprangen, musste der Sänger innerlich einen Satz machen. Das hat in früheren Zeiten manchmal zu (geckenhaften) Übertreibungen geführt. Nicht dass das rhetorische Mittel an sich falsch wäre. Doch ist man zwischenzeitlich in seinem Einsatz wieder zurückhaltender. Zum Vorzug der Briten.
Die an der Birmingham University ausgebildete Sängerin trat in den lokalen Ex Cathedra Choir ein, bevor sie im Jahr 2000 an der English National Opera als Amor in „L’incoronazione di Poppea“ debütierte. Über verschiedene Opernhäuser in Frankreich (Lille, Caen, Bordeaux, Montpellier) festigte sich ihr Opern- Ruf. Sie stand im Begriff, eine reguläre Bühnenkarriere anzusteuern, als Trevor Pinnock, Harry Christophers und Robert King sie verstärkt für Barock-CDs zu engagieren begannen. Obwohl sie sich selber keineswegs als unbedingt britische Sängerin definiert, blickt sie doch – wie fast alle Sänger aus Großbritannien – zu Vorbildern ausschließlich aus ihrer eigenen Heimat auf.
„Ein sehr wichtiger Einfluss ging für mich von dem Countertenor James Bowman aus“, erinnert sie sich. „Auf der Bühne besaß er ein außergewöhnliches Charisma“, so Sampson über einen Sänger, dem in Großbritannien tatsächlich Pionier-Rang zukommt (im Gefolge des noch bedeutenderen Alfred Deller). „Bowman war es, der mir beigebracht hat, dass ein verpatzter Ton, eine nicht ganz gelungene Aufführung keine Katastrophe ist.“ Es sei damals oft passiert, dass sie unzufrieden von der Bühne kam. „‚Es ist doch nur ein Konzert!‘, sagte mir Bowman dann – ausgerechnet er, der auf der Bühne eine so großartige Figur machte! Ich habe es beherzigt. Es blieb wichtig für mich bis heute.“ Mit dem herrlichen Bach-Album, hellwach begleitet vom Freiburger Barockorchester, darf Carolyn Sampson jetzt endlich im Bach-Mittelpunkt stehen. – „Go with Flow“ ist ihr Motto. Also: Bring es in Fluss. Und lass Dich mittreiben.
Bachs Hochzeitskantate „Weichet nur, betrübte Schatten“ BWV 202 gehört zu den am häufigsten aufgenommenen Solo-Kantaten. Neben Christine Schäfer (DG) und Emma Kirkby (Decca), die von Carolyn Sampson als Vorläuferinnen genannt und gekannt werden, wurde das Werk schon von einer Sopranistin früherer Generationen wie Elisabeth Schumann (EMI) aufgenommen. Und außerhalb zyklischer Kantaten-Editionen von Nancy Argenta (Virgin), Sybilla Rubens (Hänssler) und Barbara Hendricks (EMI). – Bei „Mein Herze schwimmt in Blut“ BWV 199 konkurrieren Dorothee Mields (Carus), Lorraine Hunt Lieberson (Yarlung), Natalie Dessay (Virgin) und Magdalena Kožená (Archiv). Beide Kantaten gibt es von Elisabeth Schwarzkopf (EMI).
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