1893 soll Claude Debussy gegenüber Ernest Chausson eine erstaunliche Beichte abgelegt haben. So meinte er, dass es für ihn noch vieles gäbe, „was ich noch nicht beherrsche (Meisterwerke schreiben, zum Beispiel, oder auch, alles furchtbar ernst zu nehmen) – ich tendiere zu sehr dazu, mein Leben zu träumen.“ 31 Jahre war Debussy schon, als ihm sein Künstlerdasein solche Kopfschmerzen bereitete. Doch als er dem Komponistenkollegen sein Herz ausschüttete, saß er bereits über dem ersten großen Meisterwerk „Prélude à l’aprèsmidi d’un faune“. Nachdem er sich erst alle lastenden Zweifel von der Seele gesprochen hatte, ging es Schlag auf Schlag, folgte ein inzwischen moderner Klassiker nach dem anderen. Ob Orchester-Werke wie „La mer“ oder Klavierzyklen wie die beiden Préludes-Hefte. Und während er selbst seine einzige Oper „Pelléas et Mélisande“, über der er so lange gebrütet hatte, jetzt in einem Zug vollendete, setzte er voller Tatendrang seine Beschäftigung mit dem Lied fort, dem er sich schon in den Studententagen gewidmet hatte.
Viele der in jener Zeit auf Gedichte von Verlaine, Gautier und de Musset entstandenen Lieder sind bekannt. Nun aber hat Sopranistin Natalie Dessay zusammen mit dem Pianisten Philippe Cassard ihr Recital „Clair de lune“ tatsächlich mit fünf Weltersteinspielungen von Chansons spicken können, die der 20-jährige Debussy geschrieben hat. Darunter findet sich mit dem über siebenminütigen „Les elfes“ Debussys längstes Lied. Und auch wenn er dieses nicht für die damals von ihm geschätzte Koloratursopranistin Marie- Blanche Vasnier geschrieben haben mag – der ihr verliehene Adelstitel „Melodien-Fee“ gebührt 130 Jahre später Natalie Dessay. Denn wie sie die melancholische Heiterkeit, den unbeschwerten Zauber und die sanfte Intensität nicht nur in den Novitäten aufblühen lässt, ist schon himmlisch.
Damit befindet man sich bereits auf dem erstaunlich dünn besiedelten Interpretations- Gipfel, mit dem das Debussy-Jahr wohl ausklingen wird. Denn zieht man die Veröffentlichungspolitik im Liszt-Jahr 2011 zum Vergleich heran, ist die Ausbeute an Neueinspielungen ziemlich ernüchternd. Dafür hat man keine Mühen der Neuverwertung gescheut. So kommen Deutsche Grammophon und Sony mit jeweils 18 CD-satten Boxen daher, die nahezu alles bieten, was man in den Archiven an großartigen Aufnahmen finden konnte. Und hier wie da gehört Pierre Boulez neben Arturo Benedetti Michelangeli und Ernest Ansermet (beide DG) bzw. Robert & Gaby Casadesus zu den herausragenden Debussy-Flüsterern. Erstaunlich zeigt sich bei der Sony-Box, dass man gerade für die Solo-Klavierwerke bislang keine prominente Spitzenkraft unter Vertrag hatte. Aber dank der größtenteils von 1992 stammenden Aufnahmen des Engländers Paul Crossley wird einem bewusst, dass es in Sachen Clarté und Anti-Parfüm einen Vorläufer des Franzosen Aimard gegeben hat.
Wobei mit Pierre-Laurent Aimard ein weiterer Musiker genannt ist, dem eine der drei herausragenden Veröffentlichungen zu verdanken ist. Wie bei Crossley schwingt auch bei Aimards Debussy-Préludes der visionäre, sich bei Olivier Messiaen und eben auch beim Komponisten Boulez niederschlagende Geist mit. Überhaupt hat Aimard einmal mehr Debussy von allen Klischees quasi reingewaschen. Das gängige Bild vom Impressionisten und Meister des synthetisch agierenden Klangalchemisten bekommt man hier nicht geboten. Stattdessen staunt man über die ultramodernen Subtilitäten, über all die experimentellen Züge im Harmonischen und Dynamischen dieser Klaviermusik. Als völliges Kontrastprogramm erweisen sich da die Préludes des Ukrainers Alexei Lubimov. Wie in einer Art Metamusik bewegt er sich durch die Stimmungs- und Klanglandschaften. Und wenngleich Lubimov auf historischen Flügeln von 1913 bzw. 1925 spielt, herrschen jene makellos innige Ruhe und Spiritualität, die auch auf die von ihm so geschätzten, meditativen Klangwelten eines Arvo Pärt verweisen. Als Bonus spielt Lubimov zudem mit Alexei Zuev die vierhändigen Klavier- Transkriptionen der „Trois nocturnes“ (Ravel) sowie das „Prélude à l’après-midi d’un faune“ (Debussy).
Wie aber umgekehrt schon immer Debussys Klavierstücke Komponisten quer durch das 20. Jahrhundert gereizt haben, sie ins Orchestrale zu übersetzen, dokumentiert die dritte Top- Empfehlung in aller Breite. Das Orchestre National de Lyon hat zwischen 2007 und 2011 unter der Leitung seines damaligen Chefdirigenten Jun Märkl sämtliche Orchesterwerke von Debussy eingespielt. Darunter finden sich einige Raritäten wie die von Debussys Zeitgenossen Charles Koechlin komplettierte Ballettmusik „Khamma, légende dansée“ oder die Fantaisie für Klavier und Orchester, herrlich duftend gespielt von Jean-Yves Thibaudet. Einen Großteil nehmen Orchestrierungen nicht nur von Ravel und Ernest Ansermet ein. André Caplet verwandelte etwa in der süffigen Version von „Children’s Corner“ seinen alten Lehrer Debussy glatt zum Leitstern für die amerikanischen Minimalisten um Philip Glass. Der Schweizer Michael Jarrell hingegen zoomte 1992 bei seinen Orchesterfassungen dreier Klavieretüden vor allem die fluktuierenden Zwischenspannungen heran, die das Visionäre von Debussy ausmachen. Hier setzt Märkl mit seinen Lyoner Musikern jedoch nicht auf vordergründige Wirkung, sondern auf kultivierte Klarheit.
Dank zweier Neuauflagen historischer Klangdokumente gibt es für das Debussy-Jahr noch ein Happy End. Da sind zum einen die aus den 1960er Jahren stammenden Einspielungen des französischen Dandys und Debussy-Spezialisten Samson Pascal François, dessen schwungvoll kristallines, koloristisch facettenreiches Klavierspiel auf 3 CDs zu bestaunen ist. Und noch weiter in die Vergangenheit, bis ins Schellack-Zeitalter lädt die 3 CD-Box „Le compositeur et ses interprètes“ ein, die nicht nur Archiv-Schätze von Debussy-Interpreten wie Bariton Gérard Souzay und Pianist Sergej Rachmaninow versammelt; auch Claude Debussy ist höchstselbst zu hören – wie er 1904 am Klavier die Sopranistin Mary Garden bei seiner Ariette „Green“ begleitet. Und trotz des Rauschens stellt sich das ein, was Pierre Boulez 1962 festgestellt hat: „Debussy strahlt verführerische Kräfte aus von geheimnisvoll hinreißendem Zauber. Seine Position an der Schwelle der Neuen Musik gleicht einem Pfeil, der einsam in die Höhe schießt.“
ECM/Universal
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Chandos/Codaex
EMI
Aeon/Note 1
Sony
Guido Fischer, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 5 / 2012
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