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N° 1354
20. - 30.04.2024

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am 27.04.2024



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Karneval und Bibelexegese: Widmanns „Babylon“

München, Staatsoper

Zweimal Jörg Widmann in einer Woche. Zunächst spielt der Uraufführungssolist Christian Tetzlaff unter dem hingebungsvollen Andris Nelsons bei den Berliner Philharmonikern dessen Violinkonzert als große rhapsodisch dichte, manchmal auch störrische Elegie. Musik, ehrlich, wirkungsvoll, auf der Höhe der Zeit. Ein paar Tage später: „Babylon“, Widmanns zweite Oper. Kleiner ging es nicht, wir sind schließlich im Münchner Nationaltheater. Der Komponist ist längst everybodys Festival-Darling. Und mehr noch der Libretto-Novize: Salonphilosoph Peter Sloterdijk. „Oper in sieben Bildern“, nennt sich schlicht, was dann doch das ganz große Weltdenkgebäude verheißt. Die Turmstadt Babylon, die schon in der Musikgeschichte von Rossinis „Semiramide“ bis Verdis „Nabucco“ und Boney M nicht eben gut wegkommt, von der Bibel gar als „Große Hure“ gebrandmarkt wird, sollte nun als die erste verwirrend globale Megacity, Erfinderin der Schrift, der Woche, des Rades, liberaler Gesetze und der freien Liebe gefeiert werden. Auch der sonst so begeisterungsfähige, sympathisch geerdete Widmann schwärmte von Überlagerung und Gleichzeitigkeit zwischen Karneval und Bibelexegese. „Babylon“, mit einem souverän den riesigen Klang- und Bildapparat zusammenhaltenden Kent Nagano am Dirigier- und den routinierten Spektakelmachern der katalanischen Theatertruppe La Fura dels Baus am Regiepult, setzt auf ironiefreie Überwältigung. Es beginnt mit der Apokalypse, um sich dann stetig zu steigern. Der Tamino- ähnliche Tammu erlebt als neuer Noah die Sintflut, muss durch eine Feuer- und Wasserprobe, wird zum Menschenopfer, als Toter im umgekehrten Orpheus-Mythos von der Liebespriesterin Inanna errettet und mit ihr gemeinsam zum Mond geschossen. Da baut Sloterdijk trockene Schulfunksätze, schwurbelt schamfrei, ergeht sich in Fantasy- Fatalität wie Esoterik-Klimbim und lässt altherrenkeck die klassische Sau raus. Die Musik fühlt sich hörbar unwohl. Widmann bietet Dodekaphonie, Pop, Jazz und ein öliges Musical- Liebesmotiv auf, die Orgel donnert, die Tonfluten schwallen, der Bayerische Defiliermarsch wird zitiert. Buchstabensuppe an Klangsalat, orgiastisch bombastisch.

Matthias Siehler, 26.09.2015, RONDO Ausgabe 6 / 2012



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