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N° 1353
13. - 24.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Die Boulevards von Paris 1740 (c) Wikimedia

Hörtest

Haydn: Pariser Sinfonien

Was man auf den Pariser Boulevards hörte: Joseph Haydn komponiert sich von der Peripherie an’s Herz der musikalischen Welt.

Joseph Haydn saß auf Schloß Esterháza und komponierte. Eine Wahnsinnssumme hatte der Comte d’Ogny aus Paris dem 52-Jährigen für sechs Sinfonien angeboten, 25 Louis d’or für jede, fünfmal mehr, als Mozart für eine Sinfonie bekam (das soll heute umgerechnet 60.000 Dollar entsprechen), dazu noch 5 Louis d’or extra pro Werk für das Recht, sie einem Verlag zu verkaufen. In Paris war Haydn nie gewesen, doch er wusste, seit dem großen Erfolg seines „Stabat Mater“ 1781 wurden dort in jedem Konzert zwei seiner Sinfonien aufgeführt. Und es ärgerte ihn, dass nicht wenige Werke seiner österreichischen Kollegen unter seinem Namen veröffentlicht wurden, weil die Verleger damit Geld verdienen konnten.
Nun sollte er direkt für Paris schreiben. Für die „Concerts de la Loge Olympique“ stand eines der besten Orchester zur Verfügung, mit 40 Streichern, 10 Kontrabässen groß besetzt, allesamt erstklassige Musiker, hinzu kamen die besten Holz- und Blechbläser der Stadt.
Natürlich hat Joseph Haydn auch versucht, aus seiner Popularität selber Profit zu schlagen und dem Pariser Verleger Boyer Sinfonien angeboten, die „schön prächtig und gar nicht zu lange“ waren, „sehr leicht und ohne konzertante Elemente.“ Nun aber konnte er anspruchsvoller werden, denn die Konzerte, für die er schreiben sollte, wurden in einer Loge der Freimaurer veranstaltet, und dort war mit einem kunsterfahrenen Publikum zu rechnen. Die Pariser gingen gern in die Oper, ins Theater und gern auch in Konzerte, und sie liebten technische Sensationen. So war es Mode, seitdem die Montgolfiére am 19. September 1783 erfolgreich in den Himmel gestiegen und wieder sicher gelandet war, zu allen möglichen Anlässen kleine Ballons steigen zu lassen.
Joseph Haydn hatte ein ziemlich konkretes Bild von den Franzosen, er las gern französische Literatur, wie die Lustspiele von Philippe Néricault Destouches und die Romane des Dramatikers Pierre Carlet de Marivaux und er kannte natürlich die Opern des in Paris so erfolgreichen Wahl-Wieners Christoph Willibald Gluck.

Der liebe Gott schaut zu

Auf seinen mittäglichen Spaziergängen, bei denen Joseph Haydn sich selbst am liebsten spannende Romane erzählte (die er als inspirierende geheime Begleiter seiner Arbeit liebte), wählte er nun also die Pariser Boulevards als Schauplatz. Das gut 500 Meter lange, überprächtige Schloss Versailles war angesichts dieser Prachtstraßen schon in weite Ferne gerückt – im Mittelpunkt standen hier die Bürger selbst. Man genoss die Schönheiten der Stadt, traf sich auf den Straßen, um über den neuesten Klatsch, Kunst und Politik zu sprechen. Dabei kleidete man sich prächtig, trug in der Taille geraffte Kleider mit Rüschen und Volants à la Madame Pompadour, dazu breitkrempige Hüte und liebte es, zu flanieren. Das Bild, das Heinrich Heine 1832 in seinen „französischen Zuständen“ entwarf, beschreibt das besondere Flair: „Wenn der liebe Gott sich im Himmel langweilt, dann öffnet er das Fenster und betrachtet die Boulevards von Paris“. Er schreibt von seinen Lieblingsboulevards, wie er vom Café Tortoni zum Café Montmartre flanierte, zwischen Pont Royal und Pont du Carrousel am Kai des Port du Louvre das Treiben der Menschen an der Seine genoss. Und Joseph Haydn wird, fünfzig Jahre früher, ähnliche hymnische Beschreibungen der Stadt schon gekannt haben.
Haydn – das zeigen nicht zuletzt seine Opern – besaß eine ausgesprochen blühende Fantasie und einen Hang zur Inszenierung von Schauplätzen mit skurrilen Typen. Das Schönste bei diesem sinfonischen Auftrag war, dass er damit rechnen konnte, dass das Pariser Publikum vertraut war mit solchen musikalischen Beschreibungen – auch wenn er seine Geschichten hinter den Instrumentalwerken nie veröffentlichen würde. Interessant wird dieser Gedanke im Nachhinein jedoch, weil auch die Pariser drei der sechs Sinfonien Beinamen gaben: Nr. 82 „L’Ours“, der Bär. Haydn nimmt im vierten Satz Rhythmen von der Straße auf, wie von einem Bärentanz, der zur Volksbelustigung vorgeführt wird. Er kehrt den tapsigen Schritt ins Dramatische um, womit dem Beobachter das Lachen im Halse stecken bleibt. Nr. 85 „La Reine“. Königin Marie Antoinette aus dem Hause Habsburg Lothringen war eine geborene Erzherzogin aus Österreich. Ihr gefiel dieses Werk angeblich besonders, vermutlich weil sie den Walzer darin als einen Gruß aus ihrer Heimat Wien verstand. Den zweiten Satz in Form einer Romanze auf das französische Volkslied „La gentille et jeune Lisette“ soll Marie Antoinette später im Gefängnis vor ihrer Hinrichtung (1793) wieder und wieder gespielt haben. Nr. 87, „La Poule“ – das Huhn. Haydn lässt die gackernde Henne nicht, wie Jahre vorher schon Jean-Philippe Rameau, nur als Nummerngirl auftreten. Hinterfragt er vielleicht sogar das leere Geplapper der Pariser Gesellschaft?
Joseph Haydn war für die Pariser Kulturschickeria ein Genie. In einer Zeitungskritik beschreibt ein Journalist den Grund für das Vergnügen der Pariser an Haydns Sinfonien: „Während viele seiner Kollegen nur Effekt an Effekt reihen, versteht Haydn es, aus einem einzelnen Thema (sujet unique) so reiche und so verschiedenartige Entwicklungen abzuleiten.“ (Mercure de France 12.4.1788)

Von lebenslustig bis gähnend-gestrig

Voller ansteckender Lebenslust, oft übermütig nimmt uns Nikolaus Harnoncourt mit an die Seine. Er fährt mit Haydn und uns in der Kutsche durch Paris, und ab und zu kommen weitere Gäste, die uns eine kurze Strecke begleiten. Die verrücktesten Typen mit Ecken und Kanten. Jedes Instrument zeigt seinen Charakter, wobei die alten Blechbläser an rauem Charme nicht zu überbieten sind.
Schwungvoll und feinsinnig leuchtet Bruno Weil diese Klassiker der Sinfonien aus. Und Tafelmusik, das Originalklang-Ensemble aus Toronto, kann seine Gedanken lesen. Vielfach lauert man quasi auf das Unerwartete, um dann doch davon überrascht zu werden. Der Sinn für Haydns abwechslungsreiche Dramaturgie bereitet lustvolles Hörvergnügen.
Leonard Bernstein und Joseph Haydn hätten Duzfreunde sein können. Der Spielwitz des Amerikaners und seine uneingeschränkte Freude an der Begegnung mit dem einfallsreichen Österreicher springt über, auch wenn die Oberfläche glatt und der Klang groß angelegt sind, wie es die amerikanischen Konzertsäle der 60er Jahre forderten. Bernstein lässt die New Yorker Philharmoniker vor Witz und Charme sprühen.
Schön ausgeleuchtet ist die Aufnahme von Adam Fischer mit der Österreichisch-Ungarischen Haydn-Philharmonie, nie langweilig, die Tempi führen vor allem ins extreme Andante hinein, ansonsten keine Ausreißer. Eine Aufnahme mit zu leichtem Glanz neigendem, ausgewogenem Klang.
Ein leicht distanziertes Genrebild zeichnet Sir Roger Norrington in seiner kürzlich erschienenen Aufnahme mit dem Zürcher Kammerorchester. Jede Linienführung von Haydn lässt sich hier sehr schön hörend verfolgen. Streicher wie auch Bläser lassen die Töne zugunsten dieser Linien gern ineinander fließen. Doch die sorgfältige dynamische Gestaltung mit Nachdruck am Ende der Phrase ist auf Dauer nicht wirklich mitreißend. Statt sich ins Pariser Leben zu stürzen, wird man zum stillen Beobachter.
Harnoncourt-Schüler Thomas Fey setzt durch Atempausen markante Akzente und kostet auf diese Weise die dynamisch feinsinnig gespannten Bögen aus. Doch seltsam räumlich verhallt wirken die Aufnahmen der Heidelberger Sinfoniker. Das nimmt den schroff musikalisch wie durch Filmschnitt gestalteten Kontrasten die Spitze ihrer Kraft.
Herbert von Karajan setzt innere Spannungsbögen, die ihres gleichen suchen. Mit seinen Berliner Philharmonikern konnte er sie so stark spannen, dass die wohlgeformten, schönen Töne in den Gruppen sorgsam gemeinsam artikuliert, eine glänzende Oberfläche bekamen. Dennoch: reine Nostalgie. Einmal hören und dann wieder mindestens fünf Jahre Pause.
Die Form des französischen Rundgesangs prägt die Aufnahme von Kristjan Järvi durchweg, laut-leise, Stimme-Gegenstimme, Streicher- Bläser. Brav durchgehalten. Das miteinander Musizieren trägt einen ausgeprägt rhythmisch-tänzerischen Charakter, die extrem differenziert gewählten Tempi der einzelnen Sätze bringen Abwechslung. Aber das reicht nicht, um es noch einmal hören zu wollen. Der Österreicher Haydn hatte mehr drauf, und das könnte man mit dem Tonkünstler-Orchester Niederösterreich auch herausfinden. Antal Doratis Aufnahme wiederum zeigt den typischen sinfonischen Charakter der 1970er Jahre mit einem besonders ausgeprägten Sinn für die Wirkung von Kontrasten. Er treibt das Tempo, ohne im Rhythmus unpräzise zu werden, um sich dann wieder richtig Zeit zu nehmen für ein schreitendes Menuett. Die Philharmonia Hungarica spielt sehr klar herausgearbeitete Stimmen, aber heutzutage zu weit weg von den Pariser Boulevards. Und Sigiswald Kuijken gelingt es abschließend zwar zu zeigen, dass die historischen Instrumente des Orchestra of the Age of Enlightenment modernen in nichts nachstehen. Darüber vergisst er jedoch, das musikalisch von Ideen nur so übersprühende Konzept von Haydn wirklich zum Leben zu erwecken. Ende der 80er spannend zu hören, heute völlig überholt.

Der Königin serviert:

Concentus Musicus Wien, Nikolaus Harnoncourt (2001)

dhm/Sony

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New York Philharmonic, Leonard Bernstein (1967)

Sony

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Tafelmusik Baroque Orchestra, Bruno Weil (2012)

Tafelmusik/Naxos

Österreichisch-Ungarische Haydn-Philharmonie, Adam Fischer (1998)

Nimbus/Naxos

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Dem Boulevard dargeboten:

Zürcher Kammerorchester, Sir Roger Norrington (2015)

Sony

Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan (1980/81)

DG/Universal

Heidelberger Sinfoniker, Thomas Fey (2010)

hänssler CLASSIC/Naxos

In der Seine entsorgt:

Tonkünstler-Orchester Niederösterreich, Kristjan Järvi (2006)

Preiser/Naxos

Philharmonia Hungarica, Antal Dorati (1971)

Decca/Universal

Orchestra of the Age of Enlightenment, Sigiswald Kuijken (1988/89)

Erato/Warner

Margarete Zander, 30.05.2015, RONDO Ausgabe 3 / 2015



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Ich bin erstaunt von der Fähigkeit Ihrer Hörtest-Autoren, die besten Aufnahmen einfach zu ignorieren, als ob sie niemals existierten. Ein Vergleich der Pariser Symphonien ohne Frans Brüggen, das ist nicht sehr professionell. Und es passiert nicht zum ersten Mal. // Anm. der Redaktion: Die Hörtests beschränken sich in der Regel auf Aufnahmen, die derzeit im Handel erhältlich sind. Insofern sind neben Frans Brüggen auch einige andere hochkarätige Aufnahmen nicht berücksichtigt, die es verdient hätten. Wir sind aber sicher, dass unsere Hörtests so viel Appetit auf das Werk wecken, dass ein Klassik-Fan von selbst zum Back-Katalog findet, wenn er auf Basis unseres Vergleichs Hunger nach weiteren Aufnahmen hat.


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