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Die letzten Monate seines Lebens verbrachte Giovanni Battista Pergolesi im nahe Neapel gelegenen Heilbad Pozzuoli; er starb dort erst 26-jährig im März des Jahres 1736. Grund für seinen frühen Tod war das Wiederaufflammen der Schwindsucht, die ihn schon seit seiner Kindheit ausgezehrt hatte. Vielleicht war das angebliche Durchfallen seiner für Rom komponierten Oper „Olimpiade“ im Januar 1735 mitverantwortlich für den finalen Krankheitsschub: Ein Zuhörer soll Pergolesi im Theater gar eine Orange an den Kopf geworfen haben. In Pozzuoli, wo Pergolesi im Konvent der Franziskaner Quartier genommen hatte, komponierte er sein posthum schnell zu immenser Berühmtheit gelangtes „Stabat Mater“, das wohl im Auftrag der neapolitanischen Bruderschaft der Cavalieri della Vergine dei Dolori entstand. Die bescheidene Besetzung für Sopran- und Altsolo plus Streicherensemble entspricht exakt derjenigen des etwa 20 Jahre zuvor im Auftrag derselben Bruderschaft komponierten „Stabat Mater“ Alessandro Scarlattis. Offenbar suchten die Cavalieri Ersatz für Scarlattis Stück, das sie vermutlich recht oft gehört haben: Raum für ein „Stabat Mater“ gab es potenziell in allen Freitags- Gottesdiensten der Bruderschaft, und der Wunsch nach möglichst häufigen Aufführungen könnte ein Grund für die Kosten sparende kleine Besetzung sein.
Was der moribunde Pergolesi den Marien-Rittern lieferte, war seiner musikgeschichtlichen Bedeutung nach allerdings weit mehr als Gebrauchsmusik: Ihm glückte nichts Geringeres als ein faszinierender Ausblick in die Zukunft, genauer gesagt auf die Stilistik der musikalischen Frühklassik. Ein Vergleich mit dem nicht minder beeindruckenden, aber weit weniger bekannten „Stabat Mater“ Alessandro Scarlattis macht die Unterschiede deutlich: Scarlatti schöpft die kleine Besetzung aus für einen konsequent vierstimmigen, harmonisch wie kontrapunktisch dichten Satz; Pergolesi begnügt sich über weite Strecken mit einer drei- oder gar zweistimmigen Faktur. Seine Melodik beruht dabei oft auf der Wiederholung kleiner motivischer Bausteine, was in starkem Kontrast zu Scarlattis barocker Fortspinnungstechnik steht. Scarlattis auf emotionale Überwältigung des Hörers zielender Eingangssatz beschwört ein affektgesättigtes, erschütterndes Szenario mit einer vor Schmerzen in Agonie gefallenen Gottesmutter herauf; Pergolesi hingegen bedient sich hier äußerlich zwar eines typisch barocken Modells der Schichtung von Sekund-Dissonanzen, verarbeitet das Material aber auf vergleichsweise objektive, vom Verstand klar erfassbare Weise. In der Alt-Arie „Quae moerebat et dolebat“, die wegen ihres tänzerisch aufgeräumten Duktus’ bei bedrückender Textaussage sehr kontrovers diskutiert wurde, reckt schließlich eine neue musikimmanente Autonomie ihr Haupt: Die musikalische Struktur als solche beginnt sich aus ihrem traditionellen Dienstverhältnis als letztendlich auf den Schöpfer ausgerichtetes Detail innerhalb der Vielfalt des Geschaffenen zu lösen und gehorcht schon einer innermusikalischen Eigengesetzlichkeit, die sich später etwa in der periodischen Gegliedertheit der Musik der klassischen Epoche manifestieren wird.
Beim Durchgang durch die zahlreichen Einspielungen von Pergolesis Schwanengesang wird man als Angehöriger einer jüngeren Hörergeneration dazu neigen, die nicht historisierenden Aufnahmen mit ihrer betroffenheitsbarocken Zähflüssigkeit oder weichgezeichneten Süße auszusparen; erwähnt sei hier lediglich eine weniger bekannte Produktion von 1964 unter Caracciolo (Decca), in der vor allem die Altistin Maureen Lehane mit unprätentiöspathosarmer Empfindsamkeit das beschriebene revolutionäre Potenzial der Musik erahnbar macht.
Die historische Aufführungspraxis erweist sich allerdings auch nicht als unfehlbares Rezept für eine schlüssige, überzeugende Interpretation: Das Weiterzappen ganz vergessen hat der Autor zuerst bei Christopher Hogwoods Einspielung mit Emma Kirkby und James Bowman, die mit ihrem Entstehungsdatum 1988 mittlerweile schon ein Klassiker des Originalklang-Business ist. Instrumentalisten wie Vokalsolisten erlauben sich unter Hogwoods Führung ein stringentes, vorwärts strebendes Ausspielen der Linien, das dem oben beschriebenen Eigen-Willen der Musik gerecht wird; Emma Kirkby findet eine Balance zwischen knabenhafter Schlichtheit und innerer Leuchtkraft ihres Gesangs, wie sie nur wenige andere Interpretinnen so konsequent parat haben. Aus ähnlichem Geist ist auch Robert Kings instrumental feiner ziselierte, noch ältere Einspielung (Hyperion, 1987) geboren: Hier begeistert vor allem Alt- Meister Michael Chance in seiner Bestform. Rinaldo Alessandrini und sein Ensemble hingegen (Opus 111) liefern sich im ersten Satz einen Wettbewerb der Zurückhaltung auf allen Ebenen, der das beschriebene Geschehen unter dem Kreuz womöglich mit seiner ganzen atemberaubenden Ungeheuerlichkeit erlebbar machen soll, tatsächlich aber eher gepflegte Blässe provoziert. Sara Mingardo hat sich später beim „Quae moerebat“ in das von Alessandrini ermittelte „originale“, rasende Tempo zu fügen, durch das laut Beihefttext eine Grundgestimmtheit der Furcht und des unterdrückten Schluchzens erzielt werden soll. Wirklich aufregend wird es bei Alessandrini immer nur dann, wenn er Sara Mingardo Gelegenheit zum Aussingen gibt.
Véronique Gens und Gérard Lesne reüssieren in der von Lesne selbst geleiteten Aufnahme (Virgin) mit kreativ agierender Continuo-Laute, weil der Darbietung ausgeprägte Spiel- und vor allem Singfreude im Dienste einer durchgängig dichten, gefühlvollen Atmosphäre zu Grunde liegen. Etwas weniger tiefenscharf und detailverliebt geriet Bernard Labadies dadurch sterilere Einspielung mit Dorothea Röschmann und Catherine Robbin. Barbara Bonney und Andreas Scholl glänzen in Christophe Roussets instrumental vor allem vom Continuo her bisweilen eigenartig verwaschener Version durch pure Stimmschönheit bei vergleichsweise bescheidenem Aussagewillen.
Decca/Universal
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Virgin/EMI
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