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Bei Plattenfirmen spricht man vom so genannten „Hausfrauentest“, wenn man ahnungslosen Menschen ein neues Produkt vorspielt. Die sollen dann möglichst unbefangen über die Musik urteilen. Julia Hülsmann hat bei ihrer aktuellen Aufnahme auf etwas Neuartiges zurückgegriffen, das man „Berliner Babysitter-Check“ nennen könnte. Hülsmanns Kindermädchen ist 22 Jahre jung, trendbewusst und hat mit Jazz oder amerikanischer Eigenbrötler-Lyrik aus dem 19. Jahrhundert naturgemäß nicht allzu viel am Hut. Doch als ihr ihre Geldgeberin unlängst eine Vertonung des Emily-Dickinson-Gedichtes „Light“ zu hören gab, musste sie respektvoll eingestehen: „Das ist aber echt ein guter Popsong!“ Für Hülsmann war es die Bestätigung, dass sie sich mit ihrem neuen Projekt auf dem richtigen Weg befand.
Natürlich, räumt die 37-jährige Pianistin ein, sei das ein Wagnis gewesen: die Freiheit der improvisierten Musik mit der hermetisch verschlossenen Welt der Lyrikerin Emily Dickinson in Einklang bringen zu wollen. Zurückgezogen verbrachte Dickinson, Tochter aus einer calvinistischen Familie, ihr gesamtes Leben im ländlichen Amherst/ Massachusetts; erst nach ihrem Tod 1886, im Alter von 56 Jahren, fand ihr enormes dichterisches Oeuvre außerhalb ihres engen Schreibzimmers Beachtung. Eine bescheidene Mauerblümchen-Persönlichkeit, die mit ihren enigmatischen Natur- und Lebensbetrachtungen im extremen Gegensatz zu den exzessiven Gefühlsäußerungen des Jazz zu stehen scheint. „Die beiden Welten passen überhaupt nicht zueinander“, stellt Hülsmann fest. „Aber das war gerade der Reiz.“
Und es funktioniert hervorragend. Gewiss, die Herangehensweise der Berlinerin ist, verglichen mit ihren beiden ersten Veröffentlichungen, im Kern spröde. Während sie auf ihrem erfolgreichen Debüt „Scattering Poems“ an der Seite der norwegischen Sängerin Rebekka Bakken und auf der Folgeplatte „Come Closer“ spielerisch und melodienreich dem Dichter E. E. Cummings und dem Song- Zyniker Randy Newman originelle Denkmäler setzte, dominiert auf „Good Morning Midnight“ eine gewisse Düsternis. Ungerade pulsieren die Metren, die Hülsmanns langjährige Rhythmusbegleiter Marc Muellbauer am Bass und Heinrich Köbberling am Schlagzeug mit Leben füllen; tonal scharfkantig geben sich die Soli der Bandleaderin. All das steht in einem bemerkenswerten Kontrast zu dem warmen Gesang Roger Ciceros, der die introspektiven Zeilen Dickinsons mit Bill-Withers-Soul und Kurt- Elling-Virtuosität zu kombinieren versteht. Von dieser Stimme geht ein stilles Strahlen aus, ebenso wie von den im Gedenken an Gil Evans arrangierten Bläsersätzen Muellbauers, die in zwei Stücken zu vernehmen sind. Dieses ständige Widerspiel von Dunkelheit und Licht ist ein Leitmotiv von „Good Morning Midnight“. Es entpuppt sich bei aller Zeitgenossenschaft in Kompositionsdingen als adäquates Transportmittel für Dickinsons Poeme aus einer lang vergangenen Zeit. Keine Frage: Auf Julia Hülsmanns Kindermädchen ist Verlass.
ACT/Edel Contraire
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