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N° 1353
13. - 23.04.2024

nächste Aktualisierung
am 20.04.2024



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Musikstadt

Baden-Baden: Der Zauberer von der Oos

Musikstädte der Welt – Musikstadt Baden-Baden? Aber gewiss doch! Denn das feine Kurpublikum wollte und will auch kulturell auf höchstem Niveau unterhalten werden. Weber, Mendelssohn, Berlioz, Clara Schumann und Brahms sorgten im 19. Jahrhundert für musikalisches Weltniveau. Das Sinfonieorchester des SWR, die Baden-Baden-Philharmonie und die Festspiele servieren heute die allerfeinsten Opern- und Konzertdelikatessen. Aus Geschichte und Gegenwart berichtet Karl Dietrich Gräwe.

Nicht zum ersten Mal in seiner Geschichte putzte sich Baden-Baden zur Festspielstadt: Als nämlich im April 1998 das Festspielhaus eröffnet wurde, eine paradoxe, aber stimmige Kombination aus Nostalgie- Bahnhof plus nagelneuem Festival-Babylon, der zweitgrößten operntauglichen Halle Europas nach der Pariser Opéra-Bastille. Die Baden- Badener wollten damals das Salzburger Festspielexempel des Maestrissimo Karajan adoptieren, die Aura des Übergroßen in die beschauliche Oase am Flüsschen Oos transferieren (das manchmal sehr reißend werden kann). Die Sterne des bestellten Star-Ensembles strahlten hell und verhießen dem Riesenliner gute Fahrt: die Voigt, die Bartoli, Gardiner und Thielemann. Leider scheint keiner der Initiatoren daran gedacht zu haben, wo man in einem sedierten Badeort von 50.000 Einwohnern ein Publikum in kostendeckender Verdichtung auftreibt. Nach nicht mal einem halben Jahr war das Einnahmedesaster nicht mehr zu beschönigen. Die Herbert-von-Karajan-Pfingstfestspiele wären dem Namen nach die längsten, der Verfallszeit nach die kürzesten aller Baden-Baden-Festivals geworden. Aber dann kamen über Nacht das neue Management und das Sanierungswunder und schneller als erwartet günstige Wachstumsprognosen.

Adel verpflichtet, oder: Wie die Französische Revolution dem kleinen Schwarzwald-Städtchen ganz unvermittelt den Aufschwung brachte.

Wachgerüttelt zu höheren balneologischen und gesellschaftlichen Ansprüchen wurde Baden- Baden durch die Folgen der Französischen Revolution von 1789. Der französische Adel mit all seinen verfeinerten kulturellen Errungenschaften fand hier, knapp jenseits des Rheins, eine von Naturschönheiten gesegnete Bleibe und richtete sich sogleich auf Dauer ein. Dem europäischen Adel blieb die Migration nicht verborgen, er zog bald nach, und über kurz oder lang versammelte sich an Ort und Stelle die ganze vornehme Welt. Eine Fontäne multipler geselliger Bedürfnisse entsprang im Tal der Oos.
Carl Maria von Weber, einer von unzähligen prominenten Besuchern, hatte zwar noch 1810 behauptet, in Baden-Baden sei kein einziges zu Konzertzwecken taugliches Instrument aufzutreiben. Aber die Lage sollte sich schnell verbessern. Der bayerische Kronprinz, Stammgast hierselbst, nahm freundschaftliche Beziehungen zu Weber auf und erhellte ihm die Laune. Die kontinuierliche Anwesenheit von Mendelssohn, Lortzing, Meyerbeer, Rossini, die in Konzerten auftraten, ließen weitere Zweifel am Baden-Badener Musikangebot nicht zu. Bei diesem mondän gemixten Kurleben zog Jean-Jacques Bénazet, Pächter der Spielbank ab 1838, die Fäden der kulturellen Versorgung. Zusätzlich profitabel für den Kur- und Kulturbetrieb: die Anbindung Baden-Badens an die Eisenbahn (der alte Bahnhof als das zum heutigen Festspielhaus gehörige Teilpalais macht also auch historischen Sinn) und das Verbot der Spielbanken im Nachbarstaat Frankreich.
Edouard, der Sohn von Jean-Jacques Bénazet, sorgte für weitere Attraktionen. Er eröffnete die Galopprennbahn im nahen Iffezheim, er übernahm von seinem Vater die Spielbank, und er ließ ein neues Theater bauen. Der Spielbank blieb auch Dostojewski nicht fern, noch heute wird einem der Tisch gezeigt, an dem er sich erst der Spielleidenschaft, dann der Verzweiflung ergab. Das Theater wurde mit einer neuen Oper eingeweiht, Bénazet gab sie bei seinem Freund Hector Berlioz in Auftrag: „Béatrice et Bénédict“, Premiere 9. August 1862, die letzte Partitur, die Berlioz vollendete. Nicht nur die doppelte Inauguration machte Berlioz zum Dauergast in Baden-Baden, häufig zu jener Zeit dirigierte er auch Konzerte, am liebsten Beethoven. Die Zahl der Kurgäste stieg sprunghaft in die Höhe, die russischen Adligen und Dichter hatten den größten Anteil daran. Die ortsansässige Einwohnerschaft geriet nicht nur statistisch ins Hintertreffen, ihr war (und ist bis heute) der Zugang zum Spielcasino verwehrt. Große Welt und Demimonde wollen Paradies und Hölle unter sich aufteilen. Baden- Baden war aber auch, dank der Aktivitäten von Bénazet Vater und Sohn, das Mekka der Kunst, Literatur und Musik – einer Welt, die keine Zulassungsbeschränkungen kennt, solange sie sich nicht in privaten Villen, Zirkeln oder Salons betätigt. Die Baden-Badener Konzerte und Musikfeste riefen die Erlebnis- und Gesellschaftshungrigen aller Kontinente auf den Plan.

Freund und Feind, oder: Wie eine französische Sängerin einen ganzen Schwarm Künstler nach Baden-Baden lockte und wie auch der Deutsch- Französische Krieg nicht alles Kulturleben auslöschen konnte.

Die Sängerin Pauline Garcia, verheiratete Viardot, weltberühmte Tochter eines Tenors und Schwester eines Baritons von gleichem Prestige, Freundin der bedeutendsten Geister, unter ihnen die Dichter Musset und Turgenjew – Pauline Viardot-Garcia also ließ sich 1863 in Baden- Baden nieder, die Familie und Freund Turgenjew im Gefolge, um die eine Karriere zu beenden und eine neue zu starten. In der Thiergarten- Straße (der heutigen Fremersbergstraße, die zum Gelände des SWR führt) ließen sich die Viardots ein Haus mit Kunstgalerie errichten. Hier versammelte Pauline Berühmtheiten um sich und setzte ihre (in Paris angefangene) Tätigkeit fort, Operetten für den Salon- und Familiengebrauch zu komponieren. Turgenjew, der in der Nähe eine eigene Villa bezog, hat nach außen nur eine Klarheit in seiner Beziehung zu Pauline hergestellt: Er hat ihr eine Reihe von Operettenlibretti geschrieben. Zu den Soireen bei den Viardots erschienen das preußische Königspaar, die französische Kaiserin, die Königin der Niederlande, Clara Schumann, Liszt, Wagner, Brahms. Der Großherzog von Weimar bestellte bei Pauline eine abendfüllende Oper. Aus dem Projekt wurde nichts mehr, 1870 brach der Deutsch-Französische Krieg aus, und Pauline samt Entourage zogen fürs Erste ins ungeliebte London um.
Ihrer Freundin Clara Schumann hatte Pauline zugeredet, ihren Wohnsitz in Baden-Baden zu nehmen. Die Witwe Robert Schumanns (er hatte der Viardot seinen „Liederkreis“ op. 24 gewidmet) kaufte für sich und ihre Kinder ein Haus im Ortsteil Lichtental. Hier scharte auch Clara die Spitzen des geistigen und musischen Lebens um sich, unter den Musikern Hermann Levi, Joseph Joachim, Anton Rubinstein und natürlich der getreue Brahms. Sie blieb zehn Jahre am Ort und gab regelmäßig Konzerte in den Nouveaux Salons des „Conversationshauses“. Nach dem Krieg, 1873, zog auch sie fort. „Hier ist es wie ausgestorben.“ Ihre Besuche und Kuraufenthalte hat sie aber unermüdlich fortgesetzt, bis zum September 1893.
Der Deutsch-Französische Krieg kann indessen nicht zur völligen Verödung des Baden-Badener Kurlebens geführt haben. Johann Strauß gab im Spätsommer 1871 ein Promenadenkonzert, das nicht nur den Jubel des Publikums fand, sondern auch die Aufmerksamkeit eines Johannes Brahms, der unverzüglich einen seiner Musikgötter erkannte (der andere wurde Dvořák). Ein Jahr später begegneten sich im Haus des allmächtigen Kritikers Pohl die Herren Brahms, Strauß und Bülow. Das Ergebnis: Der Wagnerianer Bülow wandelte sich zum Brahmsapostel, und Strauß und Bülow veranstalteten in Baden-Baden gemeinsam ein Konzert. Deutschlands Kaiser Wilhelm I., hieß es, soll keines der Baden-Badener Straußkonzerte versäumt haben, wann immer sie gleichzeitig anwesend waren. Mehr noch: Strauß und die Baden-Badener Kurkapelle mussten für den Kaiser zwei Extrakonzerte zulegen. Majestät dekorierten den Walzerkönig mit dem preußischen Adlerorden vierter Klasse in Rot, der höchsten Auszeichnung, die einem Nicht-Preußen überhaupt verliehen werden konnte. Strauß revanchierte sich mit Neukomposition und Zueignung einer „Fest-Polonaise“ op. 352.

Show me the way to B. B., oder: Wie eine veritable Brecht/Weill-Uraufführung im Tal der Oos einmal Skandal machte.

Die „Donaueschinger Kammermusik-Aufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst“, zu deren Protagonisten Paul Hindemith gehörte, wurden 1927 eine Baden-Badener Angelegenheit und fortgeführt unter der Bezeichnung „Festival Deutsche Kammermusik“. Kurt Weill erhielt den Auftrag einer Kurzoper, setzte sich mit Brecht in Verbindung, und in kürzester Zeit schüttelten die beiden das Songspiel „Mahagonny“ aus dem Ärmel (das sie von Anfang an als Vorstudie zu einer größeren Oper betrachteten). Uraufführung des Songspiels: 17. Juli 1927, Baden-Badener Stadthalle, Seite an Seite mit Ernst Tochs Musikmärchen „Die Prinzessin auf der Erbse“, Milhauds Opéra-Minute „Entführung der Europa“ und Hindemiths Sketch mit Musik „Hin und Zurück“. Vierfach gefalteter Mini- Avantgardismus, der in einen wüsten Publikumseklat mündete. Zumindest Brecht war darüber nicht unglücklich. Im Jahr danach feierte das von Brecht und Hindemith verfertigte „Lehrstück“ in derselben Stadthalle einen nicht minderen Skandal. 1930 fand das Baden-Badener Festival andernorts seine Fortsetzung als „Neue Musik Berlin“. Auch der war keine lange Dauer beschieden.

Weltoffene Internationalität, oder: Wie nach dem Krieg der Südwestfunk einen Neuanfang schaffte und selbst Musiker wie Otto Klemperer, Igor Strawinski und Pierre Boulez anlockte.

Am 1. Februar 1946, neun Monate nach Kriegsende, trat Baden-Badens Kurverwaltung ihr städtisches Sinfonie- und Kurorchester an den neu gegründeten Südwestfunk ab. Erste Chefs in Sachen Musik waren Heinrich Strobel und Hans Rosbaud, der eine zuständig für die Musikabteilung, der andere für die Leitung des Orchesters. Frankreich und die Schweiz lagen in unmittelbarer Nachbarschaft, erste Tourneen des „Südwestfunkorchesters“ gingen nach Aix en Provence und nach Basel. Die unausgesprochene Devise: weltoffene Internationalität. Rosbaud und seine dirigierenden Nachfolger bis hin zu Sylvain Cambreling sind seit je dafür eingestanden. Otto Klemperer, nach Europa zurückgekehrt, leitete am Pult des SWF Sinfonieorchesters sein erstes Konzert auf deutschem Boden nach der Emigration. Igor Strawinski war regelmäßig Gast im SWF und dirigierte reihenweise eigene Werke. Pierre Boulez unternahm seine ersten Experimente als Komponist, als Erfinder eines „dynamischen Glissandos“ im eigens für ihn eingerichteten elektronischen Studio, als künftiger Weltdirigent (noch heute hat er in Baden-Baden sein Haus). Die SWF Sinfoniker engagierten sich nicht nur fürs Klassisch-Romantische, bei den wieder auferstandenen Donaueschinger Musiktagen hoben sie in zuverlässiger Präsenz auch das Neue vom Tage aus der Taufe, von Bernd Alois Zimmermann bis Wolfgang Rihm.
Der aus Ungarn gebürtige Carl Flesch, als letzter Repräsentant des romantischen, zugleich als Vater des modernen Violinspiels apostrophiert, war auch als strenger Lehrer gefürchtet. Seine Professur in Berlin gab er auf und zog nach Baden-Baden, um hier von 1926 bis 1933 (bis zum Ausbruch der Naziherrschaft) „Sommerakademien“ abzuhalten und den talentierten Geigernachwuchs aus aller Welt in die Stadt zu ziehen. Sein Schüler Henryk Szeryng ließ 1964 mit einem ersten Kurs die Initiative seines Meisters wieder aufleben. Verzögerte Konsequenz: Seit 1981 veranstaltet die Carl Flesch Akademie regelmäßig „Internationale Baden-Badener Meisterkurse“. Als Lehrer versammeln sich aus allen Streichergattungen die renommierten Größen ihres Fachs. Die Philharmonie Baden-Baden, in gewissem Sinne die Erbin des einst vom SWF absorbierten Sinfonie- und Kurorchesters, übt jetzt das Patronat über die Carl Flesch Akademie aus.

Ende gut alles gut, oder: Wie ein neuer Intendant den havarieren Festspielkahn nicht nur wieder flott machte, sondern auf große Fahrt brachte.

In den 1920er Jahren gab es in Baden-Baden schon einmal Pläne zu einem Festspielhaus. Das gibt es nun seit 1998, mit einer turbulenten, absturzbedrohten Anfangsphase. John Neumeier, schon damals mit seinem Hamburg Ballett zu Gast, hat die drohende Havarie auf einen anschaulichen Nenner gebracht: „Bei unserem Debüt mit den ‚Bernstein Dances’ gab es zu Beginn der Generalprobe einen andern Festspieldirektor als am Ende der Generalprobe.“ Der neue: Andreas Mölich-Zebhauser. Heute kann er mit Genugtuung von eindrucksvollen Wachstumsraten berichten. Publikumsakzeptanz, Platzausnutzung, Einnahmesteigerungen, die Stabilisierung eines Kreises von Förderern, Sponsoren, bekennenden Kunstenthusiasten machen ihm Freude. Und von vornherein der erfolgreiche Impuls, gastierende Solisten und Ensembles nicht nur zu Vertragspartnern, sondern zu Freunden zu machen. Das Unternehmen Festspiele Baden-Baden ist das einzige in Deutschland, das dem Staat nicht auf der Tasche liegt. Nur der Betrieb der Immobilie Festspielhaus wird gemeinsam von Stadt und Land getragen.
Das Führungsteam der Festspiele Baden-Baden schafft bisher offensichtlich den nötigen Spagat: Geld machen sie mit den Universalprogrammen, die man auch in der übrigen Welt antreffen kann. Doch dann warten sie mit Spezialitäten auf, die nicht alle Tage zu erleben sind: Wagners „Ring“-Tetralogie unter Valery Gergiev etwa in den Visionen des St. Petersburger Mariinsky- Theaters: oszillierend zwischen archaischer Kolosshaftigkeit und psychedelischem Wahnwitz. Oder Verdis „Rigoletto“ in den Orchesterfarben des Uraufführungsjahres 1851. Zukunftsmusik, aber realistisch: Im selben Klangspektrum wird Thomas Hengelbrock Pfingsten 2007 auch Verdis „Falstaff“ präsentieren, und bereits früher, im November 2006, sind John Neumeier und sein Hamburg Ballett wieder da, mit einer Weltpremiere: „Parzival- Projekt“.

Karl Dietrich Gräwe, 13.12.2014, RONDO Ausgabe 4 / 2006



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