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N° 1354
20. - 26.04.2024

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am 27.04.2024



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Beijing Music Festival

Yin, Yang und Yu

In Beijing gibt es in diesem Jahr mehr Werke von Richard Strauss als beim Strauss-Festival in Garmisch- Partenkirchen.

Unser Bild Chinas? Wird immer noch bestimmt von den drei großen Hs: „Hausarrest“, „Hundefleisch“ und, wenn es hoch kommt, „Hsi-Men“ (dem Lüstling aus dem berühmtesten Sittenroman der Ming-Dynastie, „Kin Ping Meh“). Nun, da können wir ja noch was lernen! Zumindest Hundefleisch ist in China, wie man vor Ort feststellt, nicht mehr leicht aufzutreiben. Eine innerchinesische Protestbewegung hat gegen den Verzehr Front gemacht. China hat gewiss Grund, sich über sein Bild im Westen auch Sorgen zu machen. Gerade deshalb spielt die Klassik – als vermeintliche Schlüsselkultur des Westens – eine immer größere Rolle.
Damit sind nicht nur die bis zu 20 Millionen Klavierschüler gemeint, die in China dem Vorbild von Lang Lang nacheifern. Nein, allein in Beijing gibt es, so erzählt Dirigent Long Yu, „ungefähr zwölf klassische Orchester“. Das letzte wurde 2010 in Gestalt des Beijinger Opernorchesters gegründet (im National Center for the Performing Arts). Den Klassik-Boom bei den Chinesen gibt es indes länger als wir glauben. Denn das Shanghai Symphony Orchestra, bestehend seit 1879, ist sogar älter als die Berliner Philharmoniker.
Chefdirigent beim Shanghai Symphony Orchestra und beim China Philharmonic ist besagter Long Yu. In Deutschland kennt man ihn wenig – obwohl er in Berlin ausgebildet wurde. Yu (gesprochen: „Yü“) hat die Klassik in China auf eine reguläre, auch kommerziellere Basis gestellt. Daher bezeichnet man ihn allen Ernstes als den „Karajan von China“. Er lacht nicht darüber. Als Leiter des Beijing Music Festivals hat er in der 17. Ausgabe jenen Komponisten monothematisch aufs Programm gesetzt, den Karajan für seine eigentliche Domäne hielt: Richard Strauss.
Man spielt alles, was in 16 Konzerten nur unterzubringen ist. Nicht nur eine aus Leipzig importierte „Ariadne“ (mit Meagan Miller) und „Elektra“ mit Eva Johansson, Jane Henschel, Melanie Diener und Charles Dutoit am Pult. Sondern den ganzen Kreis der Tondichtungen einschließlich „Alpensinfonie“ und „Sinfonia Domestica“. Man scheut sich nicht, das Violinkonzert, die frühe Serenade und die noch frühere Sinfonie Nr. 1 zu spielen – Werke, an denen sich in Europa kein Dirigent die Finger schmutzig machen würde. Selbst Paavo Järvi und Kent Nagano hat man – mit anreisenden Orchestern – zu abendfüllenden Strauss-Programmen überredet. In Beijing wird in diesem Herbst mehr Strauss gespielt als beim Strauss-Festival in Garmisch-Partenkirchen.

Western von gestern

Man muss lachen, wenn man feststellt, wen man dafür aus Deutschland alles herübergekarrt hat. Siegfried Jerusalem, Wagner- Recke von einst, räuspert sich in „Elektra“ durch die Mini-Rolle des Ägisth. Cornelia Wulkopf ist sich für die klitzekleine Aufseherin nicht zu schade. Und Dagmar Schellenberger – sonst immerhin Intendantin der Operettenfestspiele von Mörbisch – ist für zwei, drei lukrative Sätze als Klytaimnestras Vertraute eigens herübergehuscht. Ihr wahrer, großer Auftritt findet freilich später in der Hotelbar statt. Wo sie, ihre Mägde um sich scharend, sichtlich die Dame von Welt hervorkehrt und aus dem Berufsleben plaudert.
Amüsant ist ein Trip in die Klassikstadt Beijing auch wegen eines ganz anderen Publikums. Die Eintrittspreise sind moderat, weil der Staat den Imagegewinn durch West-Musik großzügig subventioniert. Daher kommen viel mehr jüngere Leute. Man applaudiert allerdings auch weniger als bei uns. Da man in der traditionellen Peking-Oper während der Vorstellung essen und auch gehen darf, zögert man nicht, mitten in der Vorstellung aufzubrechen; aus welchen Gründen auch immer. Freilich: Wie überall in Asien bleibt das Publikum während der Darbietung mucksmäuschenstill.
Man freut sich vermutlich, im klimatisierten Poly-Theater oder im Konzertsaal inmitten der Verbotenen Stadt dem Smog auf zwei Stunden entronnen zu sein. Denn der hat draußen mittlerweile kriminelle Formen angenommen. Die Stadt ächzt buchstäblich unter dicken Abgas-Schwaden. Sie kommen, so sagt man, nicht nur vom immer schlimmer werdenden Autoverkehr, sondern von der umliegenden Industrie. Da Beijing nicht direkt am Meer liegt (anders als Tokio) und es noch dazu selten regnet, kann man auf Böen und aufkommende Winde nur hoffen. Die lassen indes oft tagelang auf sich warten. Ein Morgen mit blauem Himmel wird in Beijing ungefähr so enthusiastisch begrüßt wie bei uns der Frühling. Ansonsten: Atemmasken. Und ein wolkenloser Himmel, in dessen Grauschleier die Sonne wie hinter einer Milchglasscheibe verschwimmt.

Wagner-Schinken auf Klang-Qualle

Nächstes Jahr, so unkt man, will das Beijing Music Festival mit zwei riesigen Wagner-Premieren, mit „Meistersingern“ und „Tristan“, noch größer werden. Was freilich noch bestätigt werden muss. Es wären dann zwei weitere chinesische Erstaufführungen, nach dem Salzburger „Parsifal“ im vergangenen Jahr (dort dirigiert von Christian Thielemann). Das hat die Chinesen offenbar auch auf den Wagner-Geschmack gebracht.
Außerdem gibt es für Beijing- Reisende natürlich noch das National Center for the Performing Arts, also das 2007 eröffnete „große Ei“ direkt neben dem Platz des himmlischen Friedens. Der spektakuläre, an eine riesige Qualle erinnernde Bau stammt von dem französischen Architekten Paul Andreu, der schon den riesigen Erweiterungsbau des Pariser Flughafens in Glas ausführte. Das NCPA erreicht man, indem man einen flachen, das Gebäude umgebenden See in einem transparenten Tunnel unterschreitet. Täglich werden Opern, Ballette, Sinfoniekonzerte, Kammermusikabende und Peking-Opern geboten.
Wie die Dinge liegen, brauchen sich westliche Touristen also nicht mehr nur tagsüber zu gruseln angesichts der frittierten Skorpione, Tausendfüßler und miefenden Seesterne auf der Wangfujing (den ‚chinesischen Champs-Élysées’). Man kann während der ganzen Saison entweder in einem der vier Säle des NCPA ein etwaiges Fremdheitsgefühl musikalisch dämpfen. Oder den Besuch gleich auf das im Oktober stattfindende Beijing Music Festival legen. Mit Klassik, so der Eindruck, sucht China mit Macht kulturellen Anschluss an den Westen. Wer hätte gedacht, dass der bei uns immer stärker zurückgedrängten E-Musik noch einmal solche Platzhirsch-Funktionen zugetraut würden?!

www.bmf.org.cn/en/

Drei Chinesen ohne Kontrabass

Aus China kommen längst nicht mehr nur Lang Lang, Yundi Li und Yuja Wang. Unter Geigen-Spezis gilt Tianwa Yang vielfach als beste junge Violinistin der Welt. Zwar ist die Karriere des Cellisten Jian Wang, einst gefördert von Claudio Abbado, wieder etwas in den Hintergrund getreten. Unter den Dirigenten indes haben Jia Lü und Muhai Tang im Westen ein festes Standing. In der Oper sind die Sopranistin Hui He und der Mezzo Niang Ling regelmäßig anzutreffende Größen. Bei den Komponisten hat es Tan Dun bis an die Metropolitan Oper geschafft. Zhao Jiping („Rotes Kornfeld“) emanzipierte sich vom Kinozum Klassik-Komponisten. Auch gut: Hui Cheung-wai, Chan Wing-wah und Chen Xiaoyong.

Robert Fraunholzer, 29.11.2014, RONDO Ausgabe 6 / 2014



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