"Früher war mehr Lametta“, möchte man weihnachtskulturpessimistisch ausrufen. Dem scharfen Beobachter saisonaler Produkte auf dem CD-Markt kann nicht entgehen, dass die Branche im Vergleich zu den Vorjahren diesmal an der Lebkuchenfront schwächelt. Will sagen: Es fehlen die großen Highlights. Die umsatzstärkste Zeit des Jahres stellt die Produzenten offenbar zunehmend vor strategische Probleme, sich zwischen dem vertrauten (aber abgenudelten) klassischen Repertoire und zündenden Neuschöpfungen zum Thema zu positionieren. Einen Ausweg bieten da die nostalgischen Rückgriffe in die Mottenkiste früherer, hemmungslos verkitschter Weihnachtssampler. Die passen zum jungen, urbanen Spiel mit geborgten Traditionen, ohne sich dabei selbst festzulegen. Doch die ironische Übertreibung bräuchte mehr Mut und kommt dieses Jahr zu kurz.
Unser Rundgang durch die frisch gefüllten Regale beginnt bei den musikalischen Mandelkernen des Repertoires. Nach einer Handvoll Weisen der Renaissance führte Luthers Aufwertung der Musik im Gottesdienst zu einer wahren Schwemme vieler der uns heute bekanntesten geistlichen Melodien. Heben lässt sich dieser Liederschatz mit durchweg tadellosen, namhaften Künstlern aus einer 7-CD-Box des Labels Ricercar: „Geistliche Musik des deutschen Barock“. Einen Höhepunkt daraus, die „Weihnachtshistorie“ von Heinrich Schütz, hat auch Hans-Christoph Rademann mit seinem Dresdner Kammerchor und durchweg guten Solisten gerade neu aufgenommen. Gesellschaftliche Randfiguren spielen im Weihnachtsgeschehen eine zentrale Rolle: Das Marian Consort hat sich auf dem schottischen Label einmal nur um die Hirten gekümmert und deckt in „Christmas with Shepards“ überraschende kompositorische Verneigungen zwischen Mouton, Morales und Stabile auf. Der Lutherzeit widmeten sich Katharina Bäuml und Capella de la Torre schon früher, zum Einstand auf Sony stehen nun rund um das „Kindlein in der Wiegen“ die Melodien des Weihnachtsfestkreises im Mittelpunkt: Ein frisches, klanglich ungewohnt luzides Album der Renaissance-Holzbläser-Experten.
Den Korpus alter Weisen und Lutherchoräle ergänzte das Bürgertum des 19. Jahrhundert, das sich mit der Feier der biblischen (Ur-)Familie vor allem selbst zelebrierte, mit recht süßlichen, aber bis heute sehr bekannten Weihnachtsliedern. Hörbar wird das zum Beispiel auf „Mirabile Mysterium“, dem Beitrag des fabelhaften Huelgas Ensemble, das seinen Bogen europäisch ausweitet und bis zu Werken von Peter Cornelius spannt, aber auch bei Paul Hilliers schon programmatisch weltumspannenden „Carols from Old & New World“. Hillier gliedert die Chorwerke durch die sieben Adventsantiphone wie im letzten Jahr Graham Ross und der Choir of Clare College Cambridge. Die bieten dieses Jahr mit „Lux in caelo“ einen empfehlenswerten Nachschlag, mit englischer Note und einem Best-of von Praetorius bis Britten. Wenn sie nicht gerade in der Weltmusik fischen, treten sich die Chorsampler aber in einem rolierenden Repertoire wechselseitig auf die Füße, wenigstens über die Jahre betrachtet.
Ross‘ berühmte Nachbarn vom King’s College Cambridge zelebrieren in ihrer neogotischen Kapelle mit den „Nine Lessons and Carols“ nun schon seit 1918 ein wirklich stimmungsvolles Lesungs-Weihnachtslied-Programm, das von der BBC weltweit übertragen für Briten zum Weihnachtsfest gehört wie Turkey und Eggnogg. EMI-Erbe Warner taucht auf einer Doppel- CD mit einem Best-of der „Carols from King’s“ in die Geschichte ein, während im Eigenverlag des Chores als CD und erstmals überhaupt auf DVD mit den „Favourite Carols from King’s“ die Weihnachtsübertragung von 2013 veröffentlicht wird. Auch drauf: die alljährliche Auftragskomposition des Chores, so entkommt man elegant der Repertoirefalle. Ein Tipp für weihnachtsmüde Seelen!
Auf dem Festland kann mit so viel Zauber höchstens das alpenländische Brauchtum mithalten. Der professionelle Heimatgefühl- Vermarkter „Servus“ verspricht mit Tranchen vom Salzburger Adventssingen zu Zitherklängen „Himmlische Ruh‘“. Darf’s ein bisschen mehr sein? Dann haben wir noch einen Salzburger Verkaufsschlager: Herbert von Karajan. Der wird auf „The Karajan Christmas Album“ unter anderem mit den Weihnachtskonzerten der Herrn Corelli, Manfredini, Locatelli und ihren wiegenden Pastorale-Sätzen in Erinnerung gerufen. Zumindest aufführungspraktisch bietet das Album mit weihevollem Rubato und musikalischem Zimmetduft die Chance auf ironisch gebrochenen Genuss. In diesen Honigtopf dürften Produzenten nächstes Jahr für unseren Geschmack ruhig noch tiefer greifen.
Und wo es jetzt schon ganz schneefallruhig und stubenkuschelig geworden ist, fehlt nur noch eine warme, volltönende Stimme, die Besinnliches vorträgt. Thomas Quasthoff springt dieses Jahr dankenswerter Weise in die Bresche und verspricht einen Einblick in „Meine Weihnachten“, so der Titel. Der Ausnahme-Bariton, der seine Karriere bereits beendete, greift sogar für vier Klaviertrio- jazzige Nummern zum Mikrofon. Die Auswahl der Lesetexte ist nachdenklich, aber nicht weichgespült und sehr ansprechend vorgetragen. Empfehlung!
Als Nachklang dazu legen wir die Arrangements der derzeit wohl einzigen deutschen Salonmusik- Girlie-Band auf: „Christmas with Salut Salon“, das ist eine mit Schneestapfen und Glocken aufgepeppte, attacca konzipierte Hörreise quer durch interessante Werke: Corelli – kaum wiederzuerkennen – an der Seite von Weber, Brahms und Dohnányi- Variationen, alles mit eigenem Stempel versehen. Bevor es zu heiß im Zimmer wird, machen wir doch einen Spaziergang durch den Big Apple. Renée Fleming, Vorzeige-Sopranistin des american way of opera, hat sich einen Hauch Whiskey-Flavour auf die Stimme gelegt. Das ist auch nötig, weil sie sich hochkarätige Jazz-Größen als Duettpartner eingeladen hat für ihr „Christmas in New York“, darunter Wynton Marsalis und Gregory Porter. Mit jazzigem Einschlag wertet sich auch gekonnt der Blechblas-Evergreen Canadian Brass auf, damit seine Weihnachtsplatte klanglich nicht mit mitteldeutschen Posaunenchören kollidiert. Das garantieren die Kompositionen und Arragements von Jazzgröße Vince Guaraldi und Ensembletrompeter Brandon Ridenour.
Und wir bleiben beim Jazz, denn er kriegt einfach nicht genug: Bereits zum vierten Mal spielt und tourt Nils Landgren, der Mann mit der weihnachtsmützenroten Posaune, durch die Konzertsäle und Jazzclubs und feiert „Christmas with my friends“. Ein Selbstläufer, wie immer halb groovig, halb im (Landgrenschen Softeis-) Diskant hingehaucht. Der Wechsel in der Besetzung entpuppt sich so als der eigentliche Motor der Idee, die sich nach wie vor glänzend verkauft. Wer erst jetzt einsteigen möchte: Teil I-III gibt es dieses Jahr als Box (fast) geschenkt.
Ricercar/Note 1
Carus/Note 1
Delphian/hm
dhm/Sony
dhm/Sony
hm
hm
Warner
KGS/Note 1
Servus/hm
DG/Universal
Warner
DG/Universal
Decca/Universal
Steinway/Note 1
ACT/Edel
Carsten Hinrichs, 22.11.2014, RONDO Ausgabe 6 / 2014
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