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Rondo: Sie sind im damaligen Leningrad aufgewachsen. Entsprach Ihre frühe Ausbildung dem klassischen Typus der sowjetischen Schule?
Dina Ugorskaja: Ehrlich gesagt, glaube ich nicht an eine konkrete Schule, sondern an eine Synthese der verschiedenen Einflüsse und Anregungen, die sich ergänzen sollen. Meine Ausbildung in Russland war in vieler Hinsicht auch nicht typisch »russisch«. Ich hatte ja in den ersten Jahren Unterricht bei meinem Vater [dem Pianisten Anatol Ugorski, Anm. d. Red.], und ich war seine erste (ganz junge) Schülerin. Und das war eben kein reiner Klavierunterricht, sondern ein allgemein musikalischer. Es wurde sehr viel vom Blatt gesungen, von Schütz bis zu Schumanns Liedern. Das war eine wunderbare, sehr fruchtbare und experimentierreiche Zeit – für beide. Auf dem Klavier hatte ich damals (mit 6 oder 7 Jahren) beinahe den ganzen »Mikrokosmos« von Bela Bartók gespielt – das war später auch für meine Pädagogen am Leningrader Konservatorium eine sehr ungängige Methode. Andererseits hatte ich an dieser Schule auch die Vorzüge der typischen »sowjetischen« Ausbildung genossen – insbesondere die hohe theoretische Ausbildung bereits im kindlichen Alter.
Rondo: Zur Zeit der russischen Wende kamen Sie dann nach Deutschland.
Ugorskaja: Ja, und am Anfang meiner Zeit in Deutschland hatte ich in Berlin bei Galina Iwanzowa, die selbst noch bei Heinrich Neuhaus studiert hat, den wahrscheinlich »russischsten« Unterricht meines Lebens überhaupt. Ich glaube, bei ihr habe ich zum ersten Mal Rachmaninow gespielt. Außerdem – und das ist wirklich sehr »russisch« und ganz fantastisch – kümmert sie sich um jeden ihrer Schüler, als wäre es ihr eigenes Kind. Es war damals eine schwere Zeit für mich, da die abrupte Abreise aus der Sowjetunion bei mir wirklich eine innere Sperre zum Musikmachen auslöste. Aber ich habe tageund vor allem nächtelang Musik gehört, alles, was im Radio kam. 1992 kam ich zu Frau Prof. Nerine Barrett, die ihrerseits bei der ungarisch-britischen Pianistin Ilona Kabos und dann bei Rudolf Serkin studierte. Und ab da, kann ich schon sagen, begann eine ganz neue Ära. Bei ihr habe ich gelernt, dass man im Idealfall eigene Bequemlichkeit immer den Notwendigkeiten des Werkes unterordnen muss.
Rondo: Ein schönes Stichwort zur »Hammerklaviersonate«! Diese bestimmt unbequeme Gipfelbesteigung gilt ja immer als Männerdomäne.
Ugorskaja: Ich finde nicht, dass das Stück ein Männerstück ist und nur männliche Züge trägt. Dieser Titel »Hammerklavier« suggeriert eine gewisse Härte, dabei geht es ja nur um die verdeutschte Bezeichnung fürs Pianoforte. Aber was hätten wir für eine Welt, wenn Männer nur fürs harte und Frauen fürs weiche Element zuständig wären? Eine »innere Säule« ist für Beethoven natürlich von größter Wichtigkeit, aber ist sie nur eine männliche Eigenschaft?
Rondo: Wie sind Sie überhaupt zum späten Beethoven gelangt?
Ugorskaja: Für Beethoven Sonaten braucht man das ganze Leben. Es geht ja dabei nicht um das Lernen des Textes als solchen, die eigentliche Arbeit beginnt danach. Ich nehme mir hier die erforderliche Zeit, um alles zu begreifen. Wissen Sie, ich bin gerne langsam. Die Komponisten, deren Werke ich spielen darf, waren genial und manche auch sehr schnell dazu. Ich bin es nicht. Ich möchte einfach die Stücke spielen, die ich liebe, und solche aufnehmen, über die ich über einen längeren Zeitraum immer wieder nachdachte, zurückkehrte und eine besondere Wichtigkeit und Verbundenheit in meinem Leben verspüre. Im Fall von op. 106 kann man Hans von Bülow nur zustimmen, der nach 25 Jahren, die er sich mit dieser Sonate beschäftigt hatte, meinte, er könne nun behaupten, er könne sie spielen.
Rondo: Die aktuelle Aufnahme…
Ugorskaja: … ist lediglich ein Zwischenstand der Dinge, ich werde dran bleiben und versuchen es zu vervollkommnen. Dieses Werk, obwohl es in Prinzip »nur« auf einer Terz als Baustein basiert, ist so komplex, dass man bis ins Unendliche tüfteln kann. Es entspricht für mich nicht weniger als dem Verhältnis des Universums zu all seinen einzelnen Bausteinen.
Matthias Kornemann, 30.11.1999, RONDO Ausgabe 3 / 2012
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