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Als Nikolai Tokarev am Ende des Gesprächs den Pullover leicht anhebt, sitzt eine grelle Totenkopf-Gürtelschnalle darunter. Zärtlich und stolz fingern die Pianistenhände über das billige Metall. Ist das typisch? Nikolai Tokarev verehrt gestrenge Vorgänger wie Emil Gilels und Grigori Sokolow. Doch der schmale Jüngling ist zugleich Ausdruck des umbaugestählten Moskau von heute. Also mag er auch amerikanische Rapper und ZZ Top. Findet Hard-Rock, Jazz oder Loungemusik angenehmer als – sagen wir – Debussy. Der blonde Russe, tough und dünnhäutig, ist der neueste Zugang im Pianistenlager seiner Plattenfirma. Hier ist er gleich neben Horowitz, Rubinstein, Kissin und Volodos zuständig für Russisches. Und liefert doch einen Gegenbeweis zur schwerblütigen Romantik, zum russischen Seelenkultus der Vorgänger. Auf seinem ersten Album spielt Tokarev sinistren Chopin neben nervös aufgeladenem Schubert. Er bietet Strukturhellsicht und Eigensinn an der kurzen Disziplinleine.
Von vier Aufnahmetagen, die für seine CD in Berlin angesetzt waren, hat Tokarev nur zwei gebraucht. Trotz blasser 23 Jahre ist er im Wechsel zwischen Fernost und Europa flink, flexibel und frühreif geworden. Hiesige Konzertkritiken attestieren ihm Brillanz, Kraft und Stilsicherheit. Bei Franz Xaver Ohnesorgs Klavierfestival Ruhr gehört er fast schon zum Inventar. In Japan, wo er mit 13 debütierte, gilt er als Star und hat etwa ein Dutzend CDs eingespielt. Wie viele genau, weiß er selbst nicht.
Der Gnessinschüler (wie Kissin und Berezovsky) ging nach Abschluss mit Auszeichnung nach England. Das war 2001. Hier veränderte sich sein Leben radikal. In Moskau war er umhegter Mittelpunkt einer Musikerfamilie. In Großbritannien fühlte er sich „total allein“. Freilich kam er so fort mit anderen Klavierzöglingen in ein Mehrbettzimmer. Englisches Essen hasst er. Mit Manchester United kommt er auch nicht klar (sondern bevorzugt Manchester City). Er liebt Suppen – und deutsches Schwarzbier. Letzterem kann er als Schüler in Düsseldorf leichter frönen. Hier lernt er bei Barbara Szczepanska, die auch schon Severin von Eckardstein den letzten Schliff gab.
Dezidiert versteht sich Nikolai Tokarev als Teil der russischen Klavierschule. Deren Tastenklang sei wärmer, die Behandlung des Instruments virtuos geprägt. Das, meint er, zeige sich nicht im Schnell- oder Lautspielen, sondern in dessen Gegenteil: an den leisen Tönen. Für Russen seien Freundschaft, Unabhängigkeit und Härte höchste Tugenden. Dadurch sei man, so Tokarev, prädestiniert – für Schubert. Nicht zufällig wohl verehrt Tokarev die großen Dickköpfe des Klaviers am meisten – Gilels und Horowitz. Gegenüber seinen Lehrern setzte er eine extrem langsame Deutung von Liszts „Funérailles“ störrisch durch. Ein „Trauermarsch, der nicht fürs Publikum gespielt wird“, begründete er die Entscheidung.
Um sich in Schwung zu bringen, sagt er, müsse er nervös werden, bevor er auf eine Bühne gehe. Das mache er, indem er über die Musik nach denke, die er danach spielen müsse. „Hungry and angry“ gehe er dann zum Klavier. Will er sich dagegen entspannen, so entert Tokarev Jazzbühnen und improvisiert nach Art seiner Vorbilder Oscar Peterson und Alexander Rosenblatt. Des sen groovende Paganini-Variationen stellen auch einen Höhepunkt auf dem neuen Album dar. Mit dem Bengel aus Moskau begibt sich der viel leicht erste Raver in die Höhle des klassischen Löwen. Auf dem Programm: Russendisco mit Chopin.
Sony
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