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„Machicotage” – bei diesem Begriff rümpften schon vor fünf Jahrhunderten die Hardliner des liturgischen Gesanges die Nase. Als „bizarr”, gar „barbarisch” taten sie die Verzierungen ab, mit denen die heiligen Melodielinien der Gregorianik schlichtweg „verstümmelt” wurden. Und selbst heute noch stoßen sich die Gralshüter der authentischen Aufführungspraxis an dieser Form der kreativen Ekstase. Für Björn Schmelzer sind solche Reaktionen aber nur Ausdruck einer „pseudo-professionellen Korrektheit“. Der Kopf des belgischen Vokalensembles „Graindelavoix“ („Stimmkorn“) weiß schließlich, dass man mit der „Machicotage“ sogar die kontrapunktischen Monumente eines Johannes Ockeghem auszuschmücken pflegte. So entstand mit berückenden, oftmals mediterran angehauchten Klangfarben eine Aufnahme von Ockeghems „Missa Caput“, bei der man aus dem Staunen nicht mehr herauskommt.
Solche Hörabenteuer auf musikwissenschaftlich abgesichertem Boden sind die Spezialität von Schmelzer & Co. Kaum verwunderlich ist es daher auch, dass man sie mittlerweile fest zu jenem Künstlerkreis zählt, der für die erfolgreiche Arbeit des spanischen Labels „Glossa“ steht. Ob Le Concert Spirituel, das für seine Einspielung von Monteverdis Madrigalen hoch gelobte Ensemble La Venexiana oder der Gambist Paolo Pandolfo – sie alle sind seit jetzt 15 Jahren Teil einer großen Musikerfamilie, die sich nichts anderes auf die Fahnen geschrieben hat als musikalisch neue Wege auszukundschaften. Und dafür haben sie alle erdenklichen Freiheiten. Denn für einen der beiden Gründungsväter des Labels, Carlos Céster, ist „Glossa zuallererst ein Künstlerlabel. Es geht um die Künstler, nicht so sehr um das Repertoire. Und letztendlich geht es um gegenseitiges Vertrauen – in diesem Sinne bin ich stolz darauf, dass noch nie einer unserer Künstler Glossa verlassen hat.“
Die flankierenden Maßnahmen, mit denen das in El Escorial ansässige Label die Interpreten binden kann, sind aber auch optimal. Céster hat ein Team aus Essayisten, Designern, Ingenieuren und Produzenten zusammengestellt, das jede CD zu einem multisensorischen „Gesamtkulturobjekt“ (Céster) werden lässt. Rund 130 von diesen Qualitätsprodukten sind seit 1992 nunmehr erschienen. Seit sich Céster gemeinsam mit dem Alte-Musik-Gitarristen José Miguel Moreno einen Traum erfüllen konnte: „Morena war zu der Zeit der wohl wichtigste Vertreter der spanischen Alten Musik, wenn man von Jordi Savall absieht. Weil die Zusammenarbeit mit den Majorlabels ihn aber sehr frustrierte, kam Moreno auf die Idee, ein eigenes Label zu gründen. Und bald fand auch ich in diesem Projekt alles, was ich mir immer gewünscht hatte: eine direkte Zusammenarbeit mit großen Künstlern, die sinnvolle Anwendung der Aufnahmetechnologie auf die Musik und die Möglichkeit, meine eigenen Konzepte in den Bereichen Design, Kultur und Marketing zu verwirklichen.“ Mit diesem Masterplan hat es der im Allgäu geborene Sohn einer deutschen Mutter und eines spanischen Vaters tatsächlich geschafft, nicht nur eines der unverwechselbarsten Klassiklabels aufzubauen.
Dank der ständigen Schärfung des Profils mit Projekten wie „Grand Tour“, das auf den Dirigenten Frans Brüggen zugeschnitten ist, oder der neuen CD-Buch-Reihe „Ediciones Singulares“ muss Céster nicht in den Jammerchor der Klassikbranche einstimmen: „Für ruhelose Labels wie Glossa kann sich diese Krise nur positiv auswirken. Beim Betreten eines Klas sik- CD-Ladens habe ich schon immer das Gefühl gehabt, dass die meisten Labels selbst an dieser Abwärtsfahrt schuldig sind: völlig geschmacklose Aufmachung, immer wieder dasselbe Repertoire.“ Wie man diesem saftlosen Mainstream entgegensteuern kann, zeigt man jährlich mit 15 handverlesenen Künstlerproduktionen, von denen jede einzelne der musikalischen Vergangenheit ihren Platz in der Zukunft sichert. Oder wie es Céster formuliert: „Wir sind auf einer ständigen Suche und hoffen nur CDs zu produzieren, die dem Musikliebhaber wahre Freude bereiten.“ Exemplarisch dafür heißt daher auch eine andere Ausnahmeeinspielung von „Graindelavoix“ mit höfischen Gesängen von Gilles de Bins dit Binchois schlicht und einfach: „Joye“.
Guido Fischer, 09.08.2014, RONDO Ausgabe 3 / 2007
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