Chefdirigenten sind eine bissige Spezies. Als sich Herbert von Karajan und Wilhelm Furtwängler einmal in Salzburg trafen, um endlich über alles zu sprechen, verlief das Gespräch wunderbar. Man scherzte und lachte – und schied in äußerster Harmonie. Schon am nächsten Morgen erschien Furtwängler im Büro der Salzburger Festspiele und fasste das Ergebnis der Unterhaltung wie folgt zusammen: „Er oder ich!“ Auch zwischen anderen (Chef-)Dirigenten der Berliner Philharmoniker wurde mit zusammengebissenen Zähnen gescherzt. Das beste Orchester Deutschlands war oft Zankapfel und Eifersuchtsanlass. Georg Solti berichtete, die Deutsche Post sei offenbar ein langsames Unternehmen: Er warte seit Jahren auf die briefliche Bestätigung mündlicher Verabredungen zwischen ihm und Claudio Abbado. Auch Solti wurde durch einen angeblichen Freundschaftspakt – abgesägt.
In diesem Jahr werden die Berliner Philharmoniker 125 Jahre alt. Sie müssen sich Nachfragen zu ihrer Geschichte erst neuerdings gefallen lassen. Ihre Geschichte wurde unter brillantem Wohlklang fast immer verdrängt. Der Geiger Nigel Kennedy, bekannt für scharfzüngige Kosenamen (die Wiener Philharmoniker nannte er „The Schnitzels“), bezeichnet die Berliner Supertruppe nur als „The Monsters“. Und wirklich: Manch dunkles Erbe, manche amüsante Leiche lagert im Keller der Jubilare. Ihre Rolle im Nationalsozialismus zum Beispiel. Furtwängler musste sich nach dem Krieg einem Entnazifizierungsverfahren stellen, obwohl er zahlreiche jüdische Musiker (auch Philharmoniker) vor dem Tod gerettet hatte. Sein Orchester reiste bis Kriegsende als Botschafter durch die Welt, war vom Kriegsdienst befreit, erhielt Sonderrationen. 1945 nahmen sich einzelne Mitglieder des Orchesters mit ihren Familien das Leben. Vergangenheitsbewältigung fand kaum statt. Sie wurde den Philharmonikern durch Furtwängler beinahe abgenommen.
Die Einkünfte aus Karajan-CDs streichen die Musiker bis heute gern ein. Eine Versöhnung mit dem in Ungnade gestorbenen Ex-Chef wurde nie versucht. Die Philharmoniker setzten nach 1989 alles daran, den Klangbombast des Karajansounds rasch zu beseitigen. Und trennten sich auch von Claudio Abbado, dem Werkzeug dieses Prozesses, ungerührt. Als Verdrängungskünstler. Als vielleicht einziges Orchester der Welt haben die Berliner Philharmoniker seitdem unter Simon Rattle Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis massiv importiert – und ihre romantischen Fähigkeiten dabei teilweise preisgegeben. Das nicht ganz gerade 125-jährige Jubiläum ereignet sich zu einem Zeitpunkt, der kritischer kaum sein könnte. Die Klangzukunft der Philharmoniker ist offen. Der Chef zeigt Nerven. Selbst die CD-Zukunft scheint nicht eben rosig. So wird das Philharmonikerjubiläum beinahe zum Krisensyndrom.
Da aber kommt, zur Rückschau in gloriose Vorzeit, eine Box mit Wiederentdeckungen gerade recht. Unter dem Titel „Rediscovered“ zeigen die Berliner Philharmoniker, welch musikalisch und technisch überragendes Instrument sie schon in den frühen 50er Jahren waren. Und das unter Dirigenten, deren Namen heute kein Mensch mehr kennt. Willem van Otterloo, Paul van Kempen und Fritz Lehmann machten ab 1951 einen Schwung von Philipsaufnahmen in Berlin-Dahlem. Ins CD-Zeitalter schafften es diese Trouvaillen bisher nicht. Dabei sind Beethovens Sinfonien Nr. 3, 7 und 8 unter dem Mengelbergschüler van Kempen schlicht Elementarereignisse einer schroffen, vom Luxus der Fresswelle noch nicht überrollten Zeit. Van Otterloos „Symphonie fantastique“ bebt vor Fantasie und Schlagkraft. Fritz Lehmann dirigiert vergessene Köstlichkeiten wie die „Ouverture joyeuse“ von Marcel Poot und Cherubinis „Anacréon“-Vorspiel. All dies hatte man im Archiv der Philharmoniker kaum vermutet. Dass die Sichtung philharmonischer Schätze – und dunklerer Erbstücke – erst begonnen hat, dafür ist die 4-CD-Box schönstes Indiz. Sie zeigt Zombies aus großer Zeit.
Philips/Universal
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