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Es ist eiskalt im Aufnahmesaal des Hauses des polnischen Rundfunks. Eben hat Sharon Kam noch mit ihrer energischen, lebhaften und immer etwas heiser klingenden Stimme Anweisungen mit ihren Partnern ausgetauscht: mit ihrem Mann, dem schlaksig und konzentriert vor der Sinfonia Varsovia stehenden Dirigenten Gregor Bühl, mit dem fernab in seinem Kabäuschen thronenden Tonmeister Eberhard Hinz und mit ihrem jüngeren Bruder Ori, der der Kälte im Poloshirt mit kräftigen, bloßen Armen trotzt. Dann leuchtet das rote Aufnahmelämpchen und die Klarinettistin setzt aus dem Stand und mit geradezu unwirklicher Geläufigkeit zu frischen, intensiven, halsbrecherischen Läufen an, wird mit fließenden Körperbewegungen und sprechendem Ausdruck ganz eins mit ihrem Instrument. Bis sich wieder die Stimme des Tonmeisters dazwischenschaltet. Jetzt hätten sie es, man könne zum nächsten Abschnitt gehen.
Szenenwechsel. Wir treffen Sharon Kam, Ori Kam und Gregor Bühl in der Aufnahmepause, die Frühlingssonne scheint warm in das Dirigentenzimmer, wohin sich die Familie mit dem Kantinenimbiss zurückgezogen hat. Aufnehmen sei wie Schach spielen, erklärt Sharon Kam. Man müsse das Stück so gut kennen, dass man immer drei Züge voraus sei – nur so könne man flexibel auf den Tonmeister reagieren. Doch auch dies habe sie im Lauf ihrer Karriere über Aufnahmen gelernt: »Ich bin ein Kontrollfreak, und einfach zu einem Tonmeister zu sagen: ›Ich kenne dich, Du weißt, was ich will, ich vertraue dir‹ – das war das Schwierigste.«
Ohne eine Spur von Müdigkeit beantwortet Sharon Kam alle Fragen. Begeistert berichtet sie, wie sie die Noten des wertvollen, erst einmal eingespielten Konzerts des Mendelssohn-Zeitgenossen Julius Rietz (»er trägt das Herz auf der Zunge«) auftrieb. Offen und betont dankbar geht das Ehepaar – souverän (sie), sachlich (er) – auf den emotionalen Balanceakt ein, den ein Projekt mit so klar verteilter Solisten- und Begleiterrolle auch mit sich bringt.
Eine Frage sollte man noch stellen. Wie ist es für die aus Israel stammenden Geschwister Kam, in Deutschland zu leben? »Meine Schwester und ich, wir sind zwischen Israel und den USA aufgewachsen«, antwortet Ori Kam diplomatisch, »und darum sind wir vielleicht ein bisschen Weltbürger. Zu Hause, das sind die Wohnung und drei schöne Restaurants und ein paar Freunde.«
Merkwürdig berührt es die Geschwister, dass ihnen die »deutsche« Verbundenheit mit der klassischen Musik ausgerechnet aus ihrer Heimat Israel so vertraut ist – besonders aus der älteren Generation im Israel Philharmonic Orchestra, in dem auch ihre Mutter spielt. »Als ich bei den Berliner Philharmonikern spielte, war ich überrascht, dass deren Kultur der alten Generation im Israel Philharmonic sehr ähnelte«, erinnert sich Ori Kam. »Was historisch natürlich passt, weil die Palestine Symphony von jüdischen Musikern gegründet worden war, die 1935 aus Deutschland rausgeschmissen wurden.«
Solche Verbindungen zu benennen, stieße nicht nur auf Begeisterung, weiß Sharon Kam. Ihre Großmutter etwa habe während des Krieges als Haushälterin in Stuttgart gelebt, ohne dass jemand wusste, dass sie Jüdin war. »Als ich das erste Mal bei Gregors Eltern zu Besuch war, habe ich meine Mutter angerufen und zu ihr gesagt: ›Das ist unglaublich – aber die Küche von Oma Klara sieht ganz ähnlich aus wie die Küche von Oma Sarah in Haifa!‹ Meine Mutter hat gesagt: ›Das kannst du gar nicht vergleichen‹, und hat den Telefonhörer auf die Gabel geknallt, und dann haben wir lange nicht mehr miteinander gesprochen. Sie war wütend!« – »Bis sie einmal selber da war«, sagt Gregor Bühl, »und meinte: ›Das sieht aber aus wie bei meiner Mutter ...‹« »Ich war in Deutschland, weil Du da warst«, gibt auch Sharon Kam zu, »aber gemocht habe ich es nicht. Doch irgendwann habe ich festgestellt – er hat mir einen Heiratsantrag gemacht! Es sieht danach aus, dass ich hier bleibe, und irgendwann sollte ich vielleicht auch Deutsch lernen ... Und da begann ich nach und nach, mich mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen.« Jetzt ist sie glücklich, Brücken geschlagen zu haben: »Ob ich in Deutschland lebe oder nicht, die Vergangenheit können wir nicht ändern. Aber mit Familien wie der unseren wird die Vergangenheit nicht vergessen.«
Wir müssen jetzt wirklich zurück zum kalten Aufnahmesaal, zu Max Bruchs Konzert für Klarinette und Viola. Ruhig und gefühlvoll singt die Bratsche, sicher getragen vom Orchester. Darüber, mal stichelnd und dann wieder ungeheuer zärtlich, die Klarinette. Ums Herz ist einem jetzt doch ganz ordentlich warm. Der Tonmeister sagt lange nichts. Sie haben es.
Carsten Niemann, 05.07.2014, RONDO Ausgabe 5 / 2007
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