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RONDO: Herr Cencic, unserem Kritiker Karl Dietrich Gräwe hat Ihre Rossini-CD sehr gut gefallen, nur hat er den Sänger für eine Frau gehalten. Kompliment oder Kränkung?
Max Emanuel Cencic: Ich fühle mich geschmeichelt. Denn man glaubt immer, dass sich die männliche Stimme von der weiblichen durch einige Makel unterscheidet: Gepresster Klang, ein gerader Ton ohne Vibrato und die Unfähigkeit, Brust- und Kopfstimme zu verbinden. Nein, Sie haben mir ein Kompliment gemacht.
RONDO: Sollte man bei einer Stimme nicht merken, ob es sich um eine weibliche oder um eine männliche Stimme handelt?
Cencic: Für mich ist es beinahe ein Ideal, den Geschlechterunterschied nicht herauszuhören. All das ist doch ohnehin eine Frage der Projektion.
RONDO: Was wäre ein männliches Timbre für Sie?
Cencic: Da fällt mir sofort die Stimme von Nathalie Stutzmann ein. Sie hat ein männliches Timbre im positiven Sinn: technische Perfektion verbunden mit einem tief resonierenden Klang. Nur, dass Nathalie Stutzmann zufällig eine Frau ist.
RONDO: Sie wohnen in Baden bei Wien, einem alten Spieler- und Kurschatten-Dorado.
Cencic: Und eine Operettenmetropole. Ich bin halt eine altösterreichische Mischung, in Zagreb geboren und in der Nähe des südungarischen Szegedin aufgewachsen.
RONDO: Sie hatten mit 17 Jahren bereits 700 bis 800 Auftritte hinter sich, haben das aber immer als Problem beschrieben.
Cencic: Es war ja auch ein Problem, weil ich auf diese Weise mit 17 schon keinen Spaß mehr am Auftreten hatte. Ich litt unter einem Zirkuspferdchen- Syndrom und wollte eigentlich nicht mehr singen. Die Folge war, dass die Leistung abfiel, ich bekam Depressionen. Mit 19 hat es mir gereicht. Das war in Japan während eines Liederabends mit Schubert, Strauss und Hugo Wolf. Ich sang so schlecht, dass ich mittendrin abbrechen musste.
RONDO: Befreiungsschlag oder Katastrophe?
Cencic: Eine Katastrophe. Ich hatte versagt und war von mir selbst enttäuscht. Ich wusste auch nicht, wie es weitergehen sollte. Ich wusste nur noch, dass es ein Scheißjob ist.
RONDO: Hat Ihr ausgefallener Stimmtypus alles noch schwerer gemacht?
Cencic: Gewiss. Damals galt Jochen Kowalski noch als achtes Weltwunder. Selbst er musste kämpfen. Und ich als Sopranist – das war einfach zu freakig.
RONDO: Haben Sie sich selbst als freakig empfunden?
Cencic: Eigentlich schon. Man muss irgendwann akzeptieren, dass man freakig ist. Und man braucht eine Krise dazu. Wer es ohne hinbekommt, den beneide ich. Der Weg ist nicht leicht.
RONDO: Nach Ihrer Krise kehrten Sie als Mezzosopran zurück.
Cencic: Ja, und dieser Wechsel war ein Glücksfall, weil ich dadurch mein Repertoire erweitern konnte. Für mich ist es heute wichtig, für den Countertenor und seine Akzeptanz zu kämpfen. Ich glaube, das Geschlecht wird insgesamt überschätzt.
RONDO: Glauben Sie, dass die hohe Stimmlage des Countertenors trainierbar ist?
Cencic: Unbedingt. Countertenöre sind ausbildbar. Es geht nur um die Beweglichkeit der Ligamente.
RONDO: Wie bitte?
Cencic: Ligamente sind die bewegliche Muskulatur im Hals und im Kehlkopfbereich. Beim Countertenor dreht sich alles um Elastizität. Es ist wie im chinesischen Zirkus. Da legen Ihnen die Kinder auch mit sechs Jahren einen Spagat hin. Der Witz ist: Sie müssen, um das hinzukriegen, mit vier Jahren damit angefangen haben. Genauso ist es mit dem Countertenor. Bis zu einem bestimmten Alter sind die Ligamente dehnbar. Durch Ausbildung kann man das trainieren.
RONDO: Dennoch hat man im 18. Jahrhundert vor allem operiert. Mit dem Messer.
Cencic: Im dem einzigen Buch von Pier Francesco Tosi, das über die Ausbildung von Kastraten verfasst wurde, wird der Erfolg anders beschrieben. Ich bin überzeugt davon, dass die Kastration ein medizinischer Irrtum war. In Wirklichkeit sind 90 Prozent der Operationen schief gegangen. Die meisten Sänger haben ihre Stimme verloren – und waren behindert. Ich glaube, man dachte einfach: Wenn ein Mann mit der Stimme einer Frau singt, muss das daran liegen, dass er keine Eier hat.
RONDO: Im Grunde gehen wir heute noch davon aus, dass die hohe Männerstimme eine Gabe der Natur ist – und nicht eine Frage der Erziehung.
Cencic: Und genau deswegen beginnen wir auch zu spät damit, Sänger auszubilden. Weil sie nicht früh genug anfangen, fehlt es Sängern heute an stimmlicher Individualität. Verständlich ist das, denn die Gesangsausbildung müsste in einem Alter einsetzen, das psychologisch äußerst schwierig ist. Ich weiß, wovon ich spreche. Außerdem: Im Sport sind die Ergebnisse rascher abrufbar. Beim Singen handelt es sich um die Investition in eine eher ungewisse Zukunft. Und sie beeinträchtigt die Freiheit des Kindes.
RONDO: Sind heutige Probleme des Gesangs vor allem eine Folge schlechter Pädagogik?
Cencic: Das Problem besteht darin, dass wir pädagogisch in einer total desorientierten Zeit leben. Wir können uns nicht entscheiden, ob Kinder unter handwerklichen Aspekten etwas lernen oder sich frei entfalten sollen. Eine sportliche Herangehensweise wäre viel besser. Drei Mal die Woche Gesangsunterricht ist ohnehin viel zu wenig. In den Kastratenschulen des 18. Jahrhunderts ging es zu wie in einem Shaolinkloster. Genau deshalb waren sie so erfolgreich.
RONDO: Frauenrollen werden heute – anders als im Barock – fast nie mit Männern besetzt. Um einen Travestie-Effekt zu vermeiden?
Cencic: Ja. Heute ist es sogar schwer, einen Theaterdirektor davon zu überzeugen, dass Giulio Cesare nicht von einer Frau gesungen werden soll, sondern von einem Mann – so wie es der Komponist wollte. Dem Countertenor überlässt man höchstens den zickigen Tolomeo. Die Geschlechterrollen sind heute durch die Medien stärker polarisiert denn je. Die barocke Welt war da viel weiter – und wird ja auch deshalb von uns als so fremd, aber auch als reizvoll empfunden.
RONDO: Worin besteht die Erotik des Countertenors?
Cencic: Die ist, glaube ich, völlig abhängig vom optischen Sexappeal. Wenn Justin Timberlake, den die Mädchen so schnuckelig finden, ins Falsetto wechselt, kriegen alle einen Orgasmus. Wenn ein dicker Glatzkopf das macht, sagen alle: »Schau dir die fette Schwuchtel an.« Das Auge hört mit.
RONDO: Haben Sie eine Theorie, warum viele Countertenöre schwul sind – Bässe oder Geiger hingegen fast nie?
Cencic: Wahrscheinlich ein Vorurteil. Ich kenne sehr viele schwule Bässe und etliche heterosexuelle Countertenöre. Obwohl: Einige sind schon schwul. Wenn man als Countertenor singt, muss man vielleicht anders denken.
Robert Fraunholzer, 07.06.2014, RONDO Ausgabe 2 / 2008
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