Einerseits hätte es den Kulturbürokraten ja gefallen können: Einen Klavierzyklus mit relativ eingängigen und doch modern anmutenden Stücken komponierte Dmitri Schostakowitsch 1950 aus Anlass des 200. Todestages von J. S. Bach. Die stalinistischen Kulturkritiker fürchteten jedoch neben dem anachronistischen Bezug auf einen längst verstorbenen deutschen Kirchenmusiker auch die völlige Abstraktion dieser Musik, die ideologisch ungreifbar und deshalb gefährlich sein musste. Unter diesen Vorraussetzungen entstand dennoch einer der bedeutendsten Klavierzyklen des 20. Jahrhunderts, in dem JSB eine kreative Wiederauferstehung feiert, und der Hörer findet zwischen den Klängen des 20. Jahrhunderts immer wieder Motive, die genau so von Bach stammen könnten – oder wird, aus umgekehrter Perspektive, auf die Modernität der Musik Bachs hingewiesen.
Jenny Lin erweist sich als ausgezeichnete, sensible Pianistin. Die gebürtige Taiwanerin, die in Österreich aufwuchs und studierte, lebt derzeit in New York. Sie ist eine Verfechterin ungewöhnlicher Programme, der Kombination von Bekanntem und wenig Gehörtem, und hat bereits einige Komponisten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgenommen. Schostakowitschs Präludien und Fugen spielt sie ebenso feinfühlig wie technisch ausgearbeitet. Ein klarer, aber nichtsdestoweniger einnehmender Ton zieht hier den Hörer in seinen Bann. Eine unbedingt zu empfehlende Einspielung.

Matthias Reisner, 27.06.2009

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