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N° 1354
20. - 28.04.2024

nächste Aktualisierung
am 27.04.2024



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Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel, Christoph Willibald Gluck, Robert Schumann, Hugo Wolf, Wolfgang Fortner u.a.

Dietrich Fischer-Dieskau - Early Recordings On Deutsche Grammophon

Dietrich Fischer-Dieskau, Rita Streich, Maria Stader, Josef Metternich u.a., div. Instrumentalisten, Orchester und Dirigenten

DG/Universal 477 5270
(664 Min., 1949 - 1974) 9 CDs, 69/78/75/69/77/68/69/78/81 Min

Neun CDs früher und mittlerer Fischer-Dieskau – vom Feinsten? Teilweise: Besonders einige Liedaufnahmen aus den Fünfzigern, allen voran Schumanns Kerner-Lieder mit Günther Weissenborn (1957) und auch die Auszüge aus Wolfs Italienischem Liederbuch mit Hertha Klust (1951), zeugen von Fischer-Dieskaus überwältigendem Vermittlungsgenie auf der Basis einer im besten Fall ausgesprochen klangschönen, in der Höhe irisierend durchmischten, in der Mittellage durchaus kraftvoll-kernigen Baritonstimme. Von der einst (1957) gesunden, bis zum hohen A frei und offen geführten Stimme zeugt auch Schumanns Dichterliebe mit Jörg Demus am Klavier; irritierend in puncto Höhe hingegen "Estuans interius" aus Orffs Carmina burana, aufgenommen 1949 unter Fricsay: Das Stück wurde erstaunlicherweise einen Ganzton hinuntertransponiert, wodurch die Spitzentöne zwar locker ansprechen, aber dafür eben auch nicht die erwarteten elektrisierenden hohen Gs sind. Warum Ferenc Fricsay nach ersten Erfahrungen mit dem jungen Fischer-Dieskau begeistert ausrief, er habe nicht erwartet, in Berlin einen italienischen Bariton anzutreffen, lässt das Duett "Brav, alter Hans" ("Va’ vecchio John") aus dem zweiten Akt von Verdis Falstaff zumindest erahnen: Freilich erweist sich hier Josef Metternich in der Titelpartie als der weitaus "italienischer" agierende Sänger, aber auch Fischer-Dieskau konnte zu jener Zeit über ein einigermaßen kernig-metallisches Timbre verfügen, wenn er sich diese ausgesprochen männliche, bodenständige Art zu singen gestattete.
Anderes wiederum zeugt von technischen Problemen bereits in der ersten Phase der Karriere: Zu barocken Koloraturen fand Fischer-Dieskau einfach kein Verhältnis – dies beweist etwa die Oboen-Arie aus Bachs Kreuzstabkantate unter Ristenpart (1951) –, weil er, möglicherweise auf Grund einer stilfremden Ausdrucksintention, immer wieder in harsches Bellen verfällt. Allenthalben anzutreffen sind auch Intonationsprobleme besonders in der höheren Lage, die wohl durch die häufig sehr kopfstimmlastige Mischung des Klangs zustande kommen.
Manches Interessante, manches Kuriose auch wurde für diese opulente, geschmackvoll edierte Anthologie zum 80. Geburtstag des Sängers – jede einzelne der neun CDs steckt übrigens in einer Papp-Hülle mit originalem Cover einstiger LP-Veröffentlichungen – aus den Archiven geholt: Eine Gesamtaufnahme von Glucks Orphues und Eurydike mit Stader und Streich und Fricsay (1956) etwa, ein beachtlich gelungenes Operarienalbum unter Fricsay (1961), in dem Fischer-Dieskau u. a. als Escamillo, Tonio und Zurga zu erleben ist, oder eine Auswahl von Meyerbeer-Liedern, begleitet von Karl Engel (1974). Auf der letzten CD findet sich das ebenfalls einst als LP erschienene Selbstporträt "Erzähltes Leben", in dem Fischer-Dieskau selbst ein wenig zopfig von seinem Werdegang erzählt. Die Namen vieler längst verblichener großer Künstler schmücken diese überaus erfolgsgesättigte Biografie, und im Anhören kommt einem zu Bewusstsein, dass Dietrich Fischer-Dieskau, der immer noch höchst präsente, mitsamt seinen künstlerischen Leistungen zu einer anderen, vergangenen Zeit gehört. Die dadurch verursachte Distanz, so ist anzunehmen, lässt den heutigen, mittlerweile durch ganz andersartige musikalische Erfahrungen geprägten Hörer die problematischen Aspekte des Phänomens Fischer-Dieskau weitaus stärker wahrnehmen als den veritablen Zeitgenossen. Überdenken wir, die wir nur den späten Fischer-Dieskau noch live erlebt haben und dennoch auch von ihm fasziniert waren, also immer wieder aufs Neue die Kritik, die uns heute permanent auf der Zunge liegt, und erinnern wir uns mit Bewunderung an die überwältigende Suggestivkraft, die das "Gesamtkunstwerk" Fischer-Dieskau über Jahrzehnte aufzubringen vermochte.

Michael Wersin, 01.09.2007


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